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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Großbritannien

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Großbritannien (Geschichte 1855-1857).

Parlament vorgelegte neue Budget für das Finanzjahr 1855, welches eine Anleihe von 19 Mill. Pfd. Sterl. und eine bedeutende Erhöhung der Einkommensteuer forderte, wurde genehmigt, und auch aus den parlamentarischen Kämpfen, welche die Opposition wegen des unbefriedigenden Verlaufs der Wiener Konferenzen begann, ging das Ministerium siegreich hervor. Aber um sich dauernd zu behaupten, hätte dasselbe der militärischen Erfolge bedurft, und diese blieben aus; vielmehr machten der vergebliche Sturm auf Sebastopol vom 18. Juni, bei dem die Engländer 1300 Mann verloren, und die Ersetzung des 28. Juni gestorbenen Oberbefehlshabers Lord Raglan durch General Simpson einen wenig günstigen Eindruck, und wenigstens Lord Russell mußte 13. Juli erneuten Angriffen der Opposition auf seine Wirksamkeit bei den Wiener Konferenzen weichen. Dagegen wurden weiter gehende Anträge derselben abgelehnt und die nötigen Geldbewilligungen für die Fortsetzung des Kriegs ausgesprochen. Kurz nach der Vertagung des Parlaments (14. Aug.) kam es endlich zu größern kriegerischen Entscheidungen. Zwar führte das Bombardement von Sweaborg (9.-11. Aug.) nicht zu einer Einnahme der starken Festung; dagegen erfolgte 8. Sept. der Sturm auf Sebastopol, der die Einnahme des Malakow herbeiführte. Infolgedessen zogen sich die Russen zurück, und 11. Sept. wurde die Stadt von den Verbündeten besetzt.

In G. freilich hatte man wenig Ursache, auf diesen Erfolg stolz zu sein; die Einnahme des Malakow war das Verdienst der Franzosen, während der Angriff der Engländer auf den Redan mißlungen war. General Simpson, der infolgedessen sehr unpopulär geworden war, nahm bald darauf seine Entlassung und hatte den General Codrington zum Nachfolger. Der Fall von Sebastopol verdoppelte die Thätigkeit in den Rüstungen und steigerte die kriegerische Stimmung in G.; je weniger Lorbeeren Englands Heer und Flotte bisher errungen hatten, um so mehr wollte man eine Fortsetzung des Kampfes, damit nicht Frankreich allein allen Ruhm desselben ernte. Das Krimheer sollte bis zum März auf 70,000 Mann gebracht werden; die englisch-türkischen Truppen waren 20,000 Mann stark, die beiden Fremdenlegionen der Deutschen und Schweizer zählten 7000 Mann. Die Ostseeflotte, wieder unter dem Befehl des Admirals Dundas, war mit Kriegsmaterial reichlichst versehen. Unter solchen Verhältnissen wurde 31. Jan. 1856 das Parlament eröffnet. Die Thronrede wies allerdings auf bevorstehende Friedensverhandlungen hin; aber sie betonte energisch, daß G. nur auf einen Frieden eingehen werde, welcher den Kriegszwecken vollständig entspreche, und verhieß eine unablässige Fortsetzung der Rüstungen, wofür das Parlament sofort die notwendigen Bewilligungen votierte. Indessen war Napoleon gerade aus den entgegengesetzten Motiven für den Frieden. Da Rußland sich jetzt bereit erklärt hatte, auf Grundlage der österreichischen Vorschläge in Unterhandlungen einzutreten, und Frankreich dem zustimmte, konnte auch Palmerston nicht umhin, sich an den zu Paris eröffneten Friedenskonferenzen zu beteiligen. Schon in der ersten Sitzung derselben (25. Febr.) kam ein Waffenstillstand bis 31. März zu stande; am 30. April wurde der Pariser Friede unterzeichnet, dessen wichtigste Artikel die Integrität der Pforte garantierten, die Schiffahrt auf der Donau befreiten und Rußlands Grenze weiter von diesem Strom entfernten, endlich das Schwarze Meer den Kriegsschiffen Rußlands verschlossen. Das waren immerhin bedeutende Erfolge, und das Parlament konnte nicht umhin, nach einigen Debatten im Mai seine Zustimmung zum Abschluß des Friedens auszusprechen; trotzdem aber war das Volk, das eine Fortsetzung des Kriegs, da der Sieg gewiß schien, vorgezogen hätte, eher verstimmt als begeistert über das Resultat der diplomatischen Verhandlungen.

Während nun die diplomatischen Beziehungen Großbritanniens zu Rußland wieder angeknüpft wurden, brach eine neue Verwickelung mit dem dem russischen Reich verbündeten Persien aus, dessen Truppen im Oktober 1856, im Widerspruch mit frühern Verträgen, Herat einnahmen. Bald darauf erschien eine britische Flotte im Persischen Meerbusen und eroberte 10. Dez. Buschir, welches zum Militärposten unter britischer Hoheit erklärt wurde. Nachdem General James Outram die persischen Truppen zweimal geschlagen, ward 4. März 1857 zu Paris ein Friedensvertrag unterhandelt und 14. April zu Teheran ratifiziert, der Persien zur Räumung Herats verpflichtete und G. sehr wesentliche Vorteile einräumte. Auch das Zerwürfnis mit China (s. d., S. 20 ff.) hatte sich inzwischen immer mehr verschärft; als die chinesischen Behörden die Besatzung einer vor Kanton ankernden britischen Barke festgenommen, den englischen Konsul aber insultiert hatten und die geforderte Genugthuung verweigerten, kam es zu offenem Ausbruch der Feindseligkeiten. Admiral Seymour bombardierte Kanton (Oktober und November) und mehrere benachbarte Seefestungen, war aber nicht stark genug, um entscheidende Schläge zu führen, so daß die Regierung zu Anfang des nächsten Jahrs sich entschloß, Lord Elgin mit bedeutenden Verstärkungen und ausgedehnten Vollmachten nach China zu senden. Endlich gestalteten sich auch die Verhältnisse in dem ausgedehntesten britischen Kolonialland, Ostindien, das im Februar 1856 durch die Einverleibung des 24,000 englische Quadratmeilen umfassenden Königreichs. Audh noch mehr vergrößert worden war, immer schwieriger; Symptome weitgreifender Gärung unter der in der That vielfach sehr hart behandelten eingebornen Bevölkerung machten sich bemerkbar, und ihre Klagen beschäftigten wiederholt das Parlament und die Presse des Landes.

Von diesen Verwickelungen trat in den Verhandlungen des am 3. Febr. 1857 wieder eröffneten Parlaments zunächst der chinesische Krieg in den Vordergrund. Ein Tadelsvotum Cobdens, der den Krieg als einen ungerechten bezeichnete, erhielt eine Majorität von 16 Stimmen; aber Palmerston trat nicht zurück, sondern entschloß sich dazu, 21. März das Parlament aufzulösen, und seine Hoffnung, daß das Land die energische auswärtige Politik der Regierung billigen werde, erhielt in den darauf stattfindenden Neuwahlen eine glänzende Rechtfertigung. Dieselben ergaben eine Mehrheit von 274 Stimmen für das Ministerium Palmerston; die Tories hatten an Vertretern eingebüßt, die Peeliten waren auf eine sehr kleine Zahl zusammengeschmolzen, die Manchesterschule hatte keinen ihrer Kandidaten durchgesetzt (erst später wurden Bright und Cobden gewählt). Am 5. Mai wurde das neue Parlament eröffnet; nur wenige Tage später (10. Mai) begann zu Mirat der furchtbare Aufstand in Ostindien (s. d.), und zu Anfang Juli erreichten die ersten Nachrichten davon Europa. Für die gegenwärtige Darstellung kann nur die Rückwirkung der indischen Ereignisse auf das Mutterland in Betracht gezogen werden, während in betreff der militärischen Vorgänge selbst auf den angeführten Spezialartikel verwiesen werden muß. Da ist zunächst