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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Ägypten (neuere Geschichte)

Anmerkung: Fortsetzung des Artikels 'Ägypten (neuere Geschichte)'

dienst herbeizuziehen und die Todesstrafe zu verfügen, ausdrücklich zugesichert zu erhalten. Als der Krimkrieg gegen Rußland ausbrach, stellte er der Pforte ein Korps von 15000 Mann sowie die ägypt. Flotte zur Verfügung. Abbas fand seinen Tod 13. Juli 1854, wahrscheinlich durch Meuchelmord. Ihm folgte unter Bestätigung der Pforte Saïd Pascha (s. d.), ein Sohn Mehemed Alis. Dieser, ein europäisch gebildeter Mann, behielt zwar die von seinem Vater eingeführte Landesverwaltung bei, war aber bemüht, die Lasten des Volks erträglicher zu machen. Er gab den Fellahs das Recht der freien Verfügung über Anbau und Ernte und verwandelte die Naturalleistung in Geldsteuer. Im März 1857 unternahm er mit 5000 Mann eine Expedition nach dem Sudan, wo er Leben, Freiheit und Vermögen der Bevölkerung unter seinen Schutz stellte. Ebenso schaffte er in Ä. die Sklaverei und den Sklavenhandel ab, welche Verordnung freilich selbst heute noch nicht zur vollen Durchführung gekommen ist. Die von Abbas begonnene Eisenbahn vom Mittelmeere nach Kairo vollendete er und führte sie weiter nach Sues, welche Strecke übrigens 1868 wieder eingegangen ist. Im Finanzwesen führte er eine Kontrolle ein; auch trennte er seine persönlichen Ausgaben von den Staatsausgaben. Dem franz. Einflusse vor allem zugänglich, gab Saïd dem Franzosen Lesseps die Erlaubnis zur Ausführung des Sueskanals, wiewohl die Pforte auf Englands Betrieb ihre Zustimmung verweigerte. Saïd Pascha starb 18. Jan. 1863; ihm folgte in der Regierung sein Neffe Ismaïl Pascha. Dieser suchte zunächst mit Eifer die Entwicklung des Landbaues (Baumwollkultur) und des Handels Ä.s zu fördern. In betreff der Sueskanal-Angelegenheit richtete die Pforte 6. April 1803 an Frankreich und England eine Note, in der die Fortsetzung des Kanalbaues an folgende Bedingungen geknüpft wurde: Neutralitätsgarantien für den Kanal; Einstellung der Zwangsarbeit und Rückgabe der weiten Ländereien, die sich die Compagnie angeeignet und damit der Jurisdiktion Ä.s und der Pforte entzogen hatte. Nachdem die Verhandlungen zwischen Lesseps und Ismaïl Pascha über diese Punkte gescheitert waren, rief letzterer die Vermittelung des Kaisers Napoleon III. an, der die Angelegenheit einer Kommission überwies und dann im Aug. 1864 mit einer Entscheidung hervortrat, welche die Forderungen der Pforte auf Kosten Ä.s erfüllte. Um die großen Geldopfer aufbringen zu können, berief Ismaïl Pascha im Nov. 1866 eine aus 75 auf 3 Jahre gewählten Volksvertretern bestehende Versammlung, welche durch ihre Zustimmung der Erhöhung der Steuerlast, der Regelung der Frondienste und Durchführung der sog. Justizreform, d. h. Beseitigung der Kapitulationen (s. d.), dem Auslande gegenüber eine nationale Sanktion geben sollte. Durch große Geldopfer erlangte er im Mai 1866 von der Pforte eine Änderung der Thronfolgeordnung in dem Sinne, daß statt der bisherigen Seniorats-Erbfolge in Ä. die direkte Linearfolge (vom Vater auf den Sohn) eingeführt wurde; auch setzte er es 1867 bei der Pforte durch, daß der Herrscher Ä.s nicht mehr bloß Wali, d. i. Statthalter, sondern Chediv, betitelt wurde. Die fortgesetzten Rüstungen Ismaïl Paschas und dessen Besuche an den europ. Höfen erregten jedoch bei der Pforte den Argwohn, daß derselbe die vollständige Unabhängigkeit Ä.s von der Türkei anstrebe. Beeinflußt von den Brüdern Ismaïls, die sich in ihrem Erbfolgerechte beeinträchtigt sahen, verlangte ↔ die Pforte 31. Aug. 1869 als Beweis seiner Treue Reduktion seines Heers auf 30000 Mann und Auslieferung sämtlicher Panzerschiffe und Zündnadelgewehre; ferner wurde ihm untersagt, ohne Zustimmung des Sultans neue Steuern zu erheben oder Anleihen aufzunehmen, und geboten, sich jedes selbständigen Verkehrs mit dem Auslande zu enthalten. Die feierliche Eröffnung des Sueskanals 16. bis 18. Nov. 1869 in Gegenwart vieler europ. Fürsten ließ die Sache vorläufig noch nicht zu einem Bruche kommen. Durch Vermittelung Englands und Frankreichs kam vielmehr eine Einigung dahin zu stande, daß der Chediv dem Verlangen der Türkei in Betreff der Reduktion des Heers, der Anleihen, der Steuern und der selbständigen diplomat. Vertretung nachkommen zu wollen erklärte. Konzessionen, die Ismaïl bald darauf durch abermalige Unterhandlungen Nubar Paschas zu erlangen suchte, verweigerte die Pforte; auch ließ sie im Mai 1870 erklären, daß die beabsichtigte Anleihe Ä.s keine staatsrechtliche Gültigkeit haben würde. Eine Linderung der Beziehungen der Türkei zu Ä. trat jedoch durch den 6. Sept. 1871 erfolgten Tod des Großwesirs Aali Pascha ein, der der heftigste Gegner Ismaïls gewesen war. Aalis Nachfolger Mahmud Pascha begünstigte die Pläne Ä.s. Am 25. Juni 1872 setzte es Ismail durch, daß der Sultan dem Entwurf einer neuen Gerichtsverfassung, der von einer 1869 in Kairo versammelten internationalen Kommission vorgeschlagen war, seine Genehmigung erteilte. Durch große Geldgeschenke und glänzende Festlichkeiten gelang es ihm, 8. Juni 1873 einen neuen Ferman vom Sultan zu erhalten, durch den die frühern Specialfermans ihrem wesentlichen Inhalte nach zusammengefaßt und bestätigt wurden. Damit wurde ihm das Recht der Linearsuccession und das erbliche Kaimakamat von Suakin und Massaua nebst Dependenzen zu teil. Im Fall keine männlichen Nachkommen vorhanden wären, sollte die vicekönigl. Würde nach dem Princip der Linearerbfolge an den nächsten männlichen Seitenverwandten fallen. Auf männliche Kinder in der weiblichen Descendenz findet diese Regel keine Anwendung. Bei etwaiger Minderjährigkeit des Nachfolgers kann der Chediv einen Vormund bestellen, den die türk. Regierung anzuerkennen hat. Falls keine testamentarische Bestimmung vorhanden ist, soll ein Vormundschaftsrat eingesetzt werden, der aus sämtlichen Ministern und dem Oberbefehlshaber Ä.s besteht und in dem der Minister des Innern den Vorsitz führt. Der von dem Vormundschaftsrate zu wählende Vormund bedarf jedoch der Bestätigung der Pforte. Mit dem 18. Jahre tritt für den neuen Chediv die Großjährigkeit ein. Außerdem enthielt der Ferman noch folgende Zugeständnisse: vollständige Unabhängigkeit in Bezug auf Verwaltung und Justiz; das Recht, Verträge (doch keine politischen und Staatsverträge) mit fremden Mächten abzuschließen; das Münzrecht (jedoch mit kaiserl. Namenszug) und die Befugnis, Anleihen aufzunehmen. Auch in Bezug auf Vermehrung oder Verminderung der ägypt. Armee sind ihm keine Schranken gezogen. Indes hat der Chediv das Recht der Rangerhöhung nur bis zum Oberst. Die ägypt. Truppen führen die Fahnen des türk. Reichs. Für diese weitgehenden Rechte und als Beweis, daß der Chediv die Oberhoheit des Sultans anerkennt, muß derselbe an die Pforte einen jährlichen Tribut von 150000 Beuteln (3 Mill. M.) zahlen. Dieser Ferman war für die weitere Entwicklung des Landes von hoher Wichtigkeit.

Anmerkung: Fortgesetzt auf Seite 250.