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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Anklageprozeß

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Anklageprozeß.

zu erledigen hat, ob die Anklage in der Weise, wie sie gestellt ist, als zulässig erscheine, und ob der Ankläger vor der sogen. Kleinen oder Urteilsjury zu erscheinen habe. Das Verfahren vor der A. ist geheim; es werden nur der Ankläger und, soweit dies dienlich erscheint, dessen Zeugen, nicht auch der, gegen welchen Anklage zu erheben ist, vorgefordert. Die Institution läßt sich schon unter König Ethelred nachweisen.

Anklageprozeß, diejenige Art des strafrechtlichen Verfahrens, wobei eine besondere, vom Gericht getrennte Person, ein öffentlicher oder Privatankläger, fortwährend teilnimmt, indem er den Antrag auf öffentliche Bestrafung des Verbrechers stellt, die Lieferung der Schuldbeweise gegen denselben übernimmt und die Verurteilung in die gesetzliche Strafe zu erwirken sucht. Durch diese Teilnahme des Anklägers unterscheidet sich der A. von dem sogen. Untersuchungs- oder Inquisitionsverfahren, wobei der Richter bei begangenen Verbrechen von Amts wegen einschreitet und die Untersuchung allein durchführt. Die frühere deutsche Reichsgesetzgebung hatte diese beiden heterogenen Arten des Strafverfahrens nebeneinander bestehen lassen, bis nach 1848 fast in allen deutschen Ländern ein gewissermaßen gemischtes System zur Geltung gelangte. Weiter ist zu unterscheiden zwischen dem Privatanklageprozeß, worin jeder selbständige Bürger als Ankläger auftreten darf, und dem eine ständige Organisation einer Anklagebehörde voraussetzenden Offizialanklageprozeß. Das römische Kriminalverfahren beruhte während der republikanischen Periode nach 149 v. Chr. auf der Privatanklage vor den Richterkommissionen, während vor den Volksversammlungen nur Magistrate oder Tribunen als Ankläger auftreten konnten. Gewisse Personen, wie nahe Verwandte, Frauenspersonen, Geistliche, waren von dem Rechte der Anklage ausgeschlossen. Das älteste germanische Recht stellte als obersten Grundsatz des Kriminalverfahrens die Regel auf: Ohne Kläger kein Richter. Hier war also gleichfalls nur der Privatanklageprozeß statuiert. Allmählich aber bildete sich, besonders durch den Einfluß des kanonischen Rechts, neben dem Anklageverfahren das Untersuchungsverfahren aus. Es entstand nämlich die Besorgnis, daß bei dem reinen A. oft in Ermangelung eines Anklägers ein Verbrechen straflos bleiben möchte, daher das sogen. Klagen von Amts wegen vorerst nur für größere Verbrechen, später aber allgemeiner zur Pflicht gemacht wurde. Auch gingen die geistlichen Gerichte von der Ansicht aus, daß die Kirche ein allgemeines Aufsichtsrecht über alle Gläubigen ausüben, daher ihren verborgenen Vergehen nachspüren und sie zur Buße und Strafe bringen müsse. Das kanonische Recht kennt schon drei Arten des Strafverfahrens als nebeneinander zulässig: die Accusatio oder den reinen A., die Denunciatio oder den Denunziationsprozeß, wobei der durch ein Verbrechen Betroffene dem Richter das begangene Verbrechen zur Untersuchung und Bestrafung von Amts wegen anzeigt, und die Inquisitio oder den Untersuchungsprozeß. So sind auch die meisten Artikel der peinlichen Gerichtsordnung Karls V. von 1532 sowohl auf das Anklage- als das Untersuchungsverfahren anwendbar. Immer mehr aber neigte sich das alte strenge Anklageverfahren zum Untersuchungsverfahren hin, und allmählich trug im Einklang mit der ganzen politischen sowie mit der materiellen Rechtsentwickelung, obgleich das deutsche gemeine Recht den A. nie abschaffte, sondern allen Bürgern das Recht der Kriminalanklage ließ, dennoch in der Praxis in ganz Deutschland das inquisitorische Verfahren den Sieg davon. Seit dem Anfang des 19. Jahrh. hat man die Zweckmäßigkeit dieses Verfahrens in Frage gestellt und nach dem Muster der englischen und französischen Strafprozeßgesetzgebung einem Verfahren den Vorzug gegeben, welches gewissermaßen zwischen den beiden ältern Verfahrungsarten in der Mitte steht: es ist dies das sogen. neuere Offizialanlageverfahren, beruhend auf dem Institut der Staatsanwaltschaft. Vorbildlich ward dabei der französische Strafprozeß in Gemäßheit der von Napoleon I. 1808 geschaffenen Gestalt. Der Richter darf hiernach eine strafrechtliche Untersuchung in der Regel nicht eher einleiten, als nachdem von dem Ankläger ein hierauf gerichteter Antrag eingereicht ist. Ankläger ist in der Regel der Staatsanwalt, ein aus der Reihe der Justizbeamten eigens hierzu bestellter Beamter. Dieser ist verpflichtet, bei allen zu seiner Kenntnis kommenden Verbrechen, einerlei auf welche Weise er zu dieser Kenntnis gelangt, amtshalber dafür zu sorgen, daß dieselben untersucht und bestraft werden, zugleich aber auch zu wachen, daß niemand schuldlos verfolgt werde. Er vertritt den durch das vorgekommene Verbrechen verletzten Staat und hat darauf zu sehen, daß die Untersuchung den gesetzlichen Gang einhalte und alle zweckdienlichen Mittel benutzt werden. Eine Ausnahme von dieser allgemeinen Pflicht zur Verfolgung vorgekommener Verbrechen bilden gewisse Vergehen, bei welchen nur dann eine Untersuchung eingeleitet werden kann, wenn ein von dem Beteiligten hierauf gerichteter Antrag gestellt worden ist (sogen. Antragsdelikte). Diesen in Deutschland seit 1848 vorherrschend gewordenen Grundsätzen sind trotz mancher auf den Juristentagen gegen die Staatsanwaltschaft hervorgetretener Bedenken auch die am 1. Okt. 1879 in Wirksamkeit getretene deutsche Gerichtsverfassung und die Reichsstrafprozeßordnung treu geblieben. Im Vergleich zum französischen Recht sind die Machtvollkommenheiten der Staatsanwaltschaft mannigfach beschränkt worden; doch läßt sich nicht leugnen, daß die österreichische Strafprozeßordnung von 1873 die Grundsätze des strengen Anklageprozesses, wonach die Anklagebehörde als Prozeßpartei behandelt wird, in reinerer Gestalt durchgeführt hat. Nur ausnahmsweise ist in Deutschland für geringfügige Straffälle die Privatanklage gestattet worden. Sehr beachtungswürdig sind die Einrichtungen des englischen und namentlich des schottischen Strafverfahrens. Während in England auch nach der neuerdings erfolgten Schöpfung einer öffentlichen Anklagebehörde (director of public prosecutions) die Privatanklage die allgemeine Regel bleibt, besteht in Schottland die sogen. subsidiäre Privatanklage. Danach wird, wenn der öffentliche Ankläger (Lord Advocate) das Einschreiten wegen eines Verbrechens verweigert, die Privatanklage durch andre Personen zugelassen. In Deutschland haben namentlich Mittermaier, Gneist und v. Holtzendorff dieser schottischen Anklagegestaltung das Wort geredet. Dafür spricht namentlich die Rücksicht, daß die administrative Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft von den jeweiligen Justizministerien und der politisch herrschenden Richtung einer ergänzenden Korrektur durch freie staatsbürgerliche Anklagethätigkeit dringend bedürftig erscheint. Vgl. v. Holtzendorff, Reform der Staatsanwaltschaft (Berl. 1864); Glaser in v. Holtzendorffs "Handbuch des deutschen Strafprozeßrechts", Bd. 1, S. 5 ff. (das. 1879); Gneist, Vier Fragen zur deutschen Strafprozeßordnung (das. 1874); Glaser, Handbuch des deutschen Strafprozesses (Leipz. 1883, Bd. 1).