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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Descartes

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Descartes.

Descartes (spr. däkart), René, gewöhnlich Renatus Cartesius genannt, der Begründer der neuern Philosophie und der scharfsinnigste Denker der Franzosen, geb. 31. März 1596 zu La Haye in Touraine als Sohn eines Parlamentsrats, zeigte früh eine ungemeine Lebhaftigkeit des Geistes, kam im achten Jahr ins Jesuitenkollegium zu La Flèche, wo ihm die Mathematik die meiste Befriedigung gewährte. Um Erfahrungen zu sammeln, nahm er, 21 Jahre alt, Kriegsdienste und machte unter Moritz von Oranien und Tilly Kriegszüge in Holland und Deutschland mit, focht in der Schlacht am Weißen Berg (8. Nov. 1620) unter Buquoy gegen die Böhmen und unter demselben Heerführer in Ungarn gegen die Türken, beschäftigte sich aber im stillen eifrigst mit wissenschaftlichen Arbeiten, deren erste, "De musica", vor Breda verfaßt ward. Den Entschluß aber, allen Vorurteilen zu entsagen und auf sichern und unzweifelhaften Grundlagen alles von neuem durch selbständige Forschung aufzubauen, faßte er in dem einsamen Winterlager vor Neuburg (1619). Nachdem er zu diesem Zweck 1624 seinen Abschied genommen, widmete er sich eine Zeitlang in Paris mathematischen Studien, die ihm bald Ruf verschafften, ging aber, um völlige Muße zur Ausarbeitung seines Systems zu finden, 1629 nach Holland, wo er 20 Jahre in Verborgenheit und beständig seinen Aufenthaltsort wechselnd, mit Ausnahme kurzer Reisen nach Deutschland, England und Dänemark, fast ununterbrochen verweilte. Während dieser Zeit verfaßte er die meisten und bedeutendsten seiner Werke, von denen er jedoch diejenigen, durch welche er mit der Geistlichkeit in Konflikt gekommen, wie die Schrift "De mundo", lange zurückhielt, fand alsbald Anhänger und erbitterte Gegner, wurde von dem auf ihn aufmerksam gewordenen Kardinal Richelieu nach Frankreich, von der gelehrten Königin Christine (1649) nach Schweden eingeladen, um ihr bei dem Plan der Stiftung einer Akademie der Wissenschaften behilflich zu sein. Letzten Ruf nahm er an, starb aber an den Folgen des ungewohnten nordischen Klimas schon 11. Febr. 1650 in Stockholm, von wo seine Leiche 1661 nach Paris gebracht und in der Kirche Ste.-Geneviève du Mont beigesetzt wurde.

Ungeachtet D. durch seine mathematischen und physikalischen Entdeckungen, insbesondere durch das von ihm aufgestellte Gesetz der Trägheit, einer der Väter der neuern Physik geworden ist, so galt ihm doch nicht, wie seinem Zeitgenossen Bacon, die äußere, sondern die innere Erfahrung als der Ausgangspunkt unsers Wissens. Die Ergebnisse der sinnlichen Erfahrung sind, wie die Thatsache der Sinnestäuschungen lehrt, dem Zweifel unterworfen; der Anfang der Forschung aber kann nach ihm nur ein Unbezweifelbares und zwar ein solches, aus dem sich ein weiteres folgern läßt, d. h. ein wirkliches Prinzip, sein. Ein solches aber ist der Satz: Ich denke, also bin ich (cogito, ergo sum); denn an der Thatsache, daß ich zweifle, d. h. denke, wäre auch dann kein Zweifel möglich, wenn alles, was ich denke, zweifelhaft wäre; aus dieser Thatsache aber folgt unmittelbar und ohne Schatten von Ungewißheit, daß ich bin, d. h. als denkendes Wesen bin; ob auch noch als körperliches etc., bleibt vorläufig dahingestellt. Das einzige Sein, dessen ich völlig gewiß bin, ist mein eignes, d. h. das Sein meines Geistes und seiner Gedanken, während das Sein der gesamten Körperwelt (auch meines eignen Leibes) ungewiß bleibt. Daß letztere ist, kann ich nur wissen, indem ich sie denke, d. h. eine Vorstellung von ihr habe; ob diese aber Erkenntnis oder bloße Einbildung sei, hängt von dem Grade der Verläßlichkeit ab, der meinen Gedanken selbst innewohnt. Fände sich unter den letztern eine Vorstellung, die ihrer ganzen Beschaffenheit nach so geartet ist, daß ich sie mir nicht selbst gegeben oder gemacht haben kann, sondern daß sie notwendig mir gegeben, d. h. von mir empfangen (bei der Geburt schon mitgebracht), worden sein muß, so wäre die Existenz dieses Gebers ebenso notwendig gewiß wie meine eigne. Eine solche aber ist die Idee Gottes, d. h. eines vollkommensten Wesens, eines unbeschränkten Seins, welche, da ein solches dem Gefühl der Beschränktheit meines eignen Seins gerade entgegengesetzt ist, nicht von mir selbst herrühren kann und, da sie sich in meinem Bewußtsein findet, demselben angeboren sein, d. h. von Gott selbst in mir verursacht, deren Existenz in mir daher der unumstößliche Beweis für die Existenz ihres Gegenstandes (der Gottheit) außer mir sein muß. Durch diese dem D. eigentümliche Wendung des ursprünglich von Anselmus von Canterbury gebrauchten ontologischen Beweises für das Dasein Gottes ist neben meinem eignen das Sein Gottes, durch dieses aber sofort auch das Sein der von meinem Geist verschiedenen Körperwelt für mich gewiß. Denn da die Vorstellung der letztern; d. h. der äußern Welt und Natur, in meinem Geist vorhanden und zwar so unvermeidlich vorhanden ist, daß ich, auch wenn ich wollte, mich derselben nicht zu entschlagen vermöchte, so könnte dieselbe, wenn sie trotzdem nur Täuschung sein sollte, nur das Werk eines überlegenen, absichtlich täuschen wollenden Dämons sein, d. h. die Gottheit selbst müßte Urheberin dieser absichtsvollen Täuschung sein. Da eine solche mit der Idee eines vollkommensten, also durchaus wahrheitsliebenden Wesens unvereinbar ist, so folgt, daß die äußere Welt, d. h. daß alles dasjenige wirklich existiert, was wir nach Anleitung unsrer Sinne als das Ausgedehnte mit Klarheit und Deutlichkeit uns vorstellen, und daß es die Eigentümlichkeiten wirklich besitzt, welche wir in solchen Vorstellungen an ihm erkennen. Dieses Ausgedehnte heißt Körper oder Materie. Bei sorgfältiger Reflexion über den Begriff des Körpers finden wir, daß die Natur der Materie nicht in der Härte, Schwere, Färbung oder sonst in einer sinnenfälligen Eigenschaft besteht, da jede solche Eigenschaft von dem Körper hinweggedacht werden kann, ohne daß hierdurch sein Wesen für unser Vorstellen zerstört wird, sondern lediglich in der Ausdehnung. Diese allein, die als solche der Rechnung unterworfen werden kann, bildet nicht nur die Grundlage der Geometrie, sondern auch der Physik. Dadurch, daß der Körper Ausdehnung hat, die Seele aber keine, ist zwischen beiden eine diametrale Differenz gesetzt, die zur Folge hat, daß, während der Körper zerstört werden kann, die Seele unverwüstlich, d. h. unsterblich, ist. Beide Substanzen, Körper und Seele, deren Sitz D. in die Zirbeldrüse als das einzige unpaarige Organ im Gehirn verlegte, würden nun aber als direkt einander entgegengesetzt völlig beziehungslos aufeinander bleiben, die Seele würde nicht auf den Körper, dieser nicht auf jene einwirken, wenn nicht Gott, von dem beide unbedingt abhängig sind, auch beide durchdränge und so die angemessene Übereinstimmung zwischen ihnen herstellte, immer schaffend und vermittelnd, eine Behauptung, welche seinen Schüler Geulings (s. d.) auf die Hypothese des Okkasionalismus (s. d.) leitete. Da D. das Wesen der Seele bloß im sich selbst bewußten Denken erkannte, so sprach er den Tieren eine solche ab und bezeichnete sie als belebte Maschinen, ein Wort, das häufig ganz grobsinnlich mißverstanden worden ist. D. vollzog eine entscheidende