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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Göttinger Dichterbund

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Göttinger Dichterbund.

rühmte Schädelsammlung), eine Sternwarte, ein Klinik (Ernst August-Hospital), eine Augenheilanstalt, eine Entbindungsanstalt, ein physikalisches Kabinett, einen 4 Hektar großen, ausgezeichneten botanischen Garten (von Haller angelegt), ein chemisches Laboratorium, eine landwirtschaftliche Akademie, ein naturwissenschaftliches Museum etc. Die berühmte königliche Societät der Wissenschaften (gleichfalls von Haller gestiftet) zerfällt in drei Klassen: eine physikalische, mathematische und historisch-philologische, und zählt gegenwärtig etwa 80 Mitglieder. Außerdem hat G. ein königliches pädagogisches Seminar, ein mit einem Realgymnasium verbundenes Gymnasium, mehrere Hospitäler und milde Stiftungen und ein gut eingerichtetes Armenwesen. Der Magistrat zählt sechs, das Kollegium der Bürgervorsteher zwölf Mitglieder. Der hohe, mit alten Linden besetzte Wall bildet mit seinen üppigen Gartenanlagen schöne Spaziergänge, und ganz in der Nähe sind der Rohns- oder Volksgarten sowie die städtischen Anlagen am parkartig bewaldeten Hainberg und die Dörfer Grone, Weende, Geismar und Reinhausen mit dem Bürgerthal vielbesuchte Punkte. Über Mariaspring, nördlich von G., erheben sich die Ruinen der Burg Plesse, auf zwei isolierten Kegelbergen bei Gelliehausen, südöstlich von der Stadt, die Trümmer der beiden Gleichen (s. d.) und weiter nach S., bei Arendshausen, die Ruine der Burg Hanstein. - G. kommt als Gutingi bereits in Urkunden von 950-960 vor und war lange Zeit nur ein Dorf, in dessen Feldmark die kaiserliche Pfalz Grone lag (im W. der heutigen Stadt, auf einem Hügel, dem sogen. Kleinen Hagen). Der Ort erhielt 1210 vom Kaiser Otto IV. Stadtrecht und war später zu verschiedenen Malen (1286-1463) Hauptstadt eines besondern welfischen Fürstentums. Das 14. Jahrh., in welchem G. ein angesehenes Glied der Hansa war, bildet die erste Glanzperiode der Stadt. Diese schaffte 1530 den katholischen Gottesdienst ab. Die Unabhängigkeit in der Verwaltung, der sie sich seit Jahrhunderten erfreut hatte, verlor sie 1611 durch Herzog Heinrich Julius. Im Dreißigjährigen Krieg wurde sie nach längerer Belagerung 2. Aug. 1626 von Tilly eingenommen und erst 11. Febr. 1632 vom Herzog Wilhelm von Weimar befreit; durch den Krieg hatte sie fast zwei Drittel ihrer Häuser eingebüßt. Der neue Aufschwung Göttingens beginnt ein Jahrhundert später mit Errichtung der Universität (1737). Derselben hat die deutsche Wissenschaft sehr viel zu verdanken. G. ist außerdem bekannt geworden durch den "Göttinger Dichterbund" (s. d.) und die 1837 erfolgte Absetzung von sieben Professoren (der "Göttinger Sieben": Albrecht, Dahlmann, Ewald, Gervinus, Jakob und Wilhelm Grimm und W. Weber), welche gegen die Aufhebung der Verfassung durch König Ernst August Protest eingelegt hatten. Vgl. Rößler, Die Gründung der Universität G. (Götting. 1855); Unger, G. und die Georgia Augusta (das. 1861); "Göttinger Professoren" (Gotha 1872); Frensdorff, G. in Vergangenheit und Gegenwart (Götting. 1878); "Urkundenbuch der Stadt G. 1401-1500" (hrsg. von Schmidt, Hannov. 1867); "Urkunden der Stadt G. aus dem 16. Jahrhundert" (hrsg. von Hasselblatt und Kästner, Götting. 1881).

Göttinger Dichterbund, eine in der Geschichte der deutschen Litteratur vielgenannte Vereinigung jüngerer Poeten der Sturm- und Drangperiode, welche für die Entwickelung der deutschen Lyrik im allgemeinen und für die Anregung ihrer Mitglieder Bedeutendes erreichte, wenn sie auch naturgemäß weit hinter ihren ursprünglich gesteckten Zielen zurückblieb. H. Chr. Boie (s. d.) hatte während seiner Studienzeit in Göttingen sich mit Fr. W. Gotter (s. d.) zur Herausgabe des ersten deutschen "Musenalmanachs" (von 1770) vereinigt. Anregend und von vielseitigem Interesse, wenn auch ohne eignes poetisches Talent, wußte Boie eine Zahl der in Göttingen studierenden jüngern Poeten um sich zu vereinigen. J. H. ^[Johann Heinrich] Voß, der sich später mit Boies Schwester Ernestine verlobte, der junge Cramer, der Sohn des Freundes Klopstocks, der Rheinländer Hahn waren Boies Wesen sehr entgegengesetzte Naturen und trieben namentlich ihre Klopstock-Begeisterung, ihre unbestimmte Sehnsucht nach einer Deutschheit, welche sich zunächst nur als Feindseligkeit gegen den französischen Geschmack äußern konnte, ins Maßlose. Aus einer litterarischen Zusammenkunft, bei welcher die gegenseitigen Produkte beurteilt werden sollten, gestaltete sich zunächst ein Freundschaftsbund enthusiastischer Jünglinge. An einem schönen Herbstabend (12. Sept. 1772) schwuren sich Voß, Miller, Hahn, Hölty, Wehrs ewige Freundschaft und unbedingte Aufrichtigkeit im Urteil übereinander. In wöchentlichen Zusammenkünften suchte man sich gegenseitig in den Gesinnungen der Tugend und Deutschheit, im Haß gegen die "Sittenverderber" Wieland und Voltaire, in der Bewunderung Klopstocks und vaterländischer Bardenpoesie zu stärken, huldigte dabei einem gewissen Tyrannenhaß und einem Freiheitsgefühl, die nur bei Voß reale Unterlage hatten und nicht hinderten, daß das hocharistokratische poetische Brüderpaar Christian und Friedr. Leopold, Grafen zu Stolberg, dem "Hainbund" mit Begeisterung beitraten (auch Bürger trat in Beziehungen zu dem Bund). Wichtiger waren die Neigung zu griechischen Studien, die Voß, das Streben nach einem volkstümlichen, liedmäßigen Ton in der Dichtung, das hauptsächlich Hölty und Miller pflegten. Durch die Stolberg ward die Annäherung an Klopstock vermittelt, dessen 49. Geburtstag der Dichterbund 2. Juli 1773 mit einem Fest beging, bei dem man in Rheinwein Klopstocks Gesundheit, Hermanns (des Cheruskers) und Luthers Andenken trank, die Hüte auf dem Kopf von Freiheit, von Deutschland, von Tugendgesang sprach und zuletzt Wielands Bildnis und "Idris" verbrannte. Der nüchterne Boie protestierte umsonst gegen diesen "Schwung", Klopstock aber erklärte sich mit den Jünglingen völlig einverstanden: "Der größte Dichter", schrieb Voß an Brückner, "der erste Deutsche von denen, die leben, der frommste Mann will Anteil haben an dem Bunde der Jünglinge. Alsdann will er Gerstenberg, Schönborn, Goethe und einige andre, die deutsch sind, einladen, und mit vereinten Kräften wollen wir den Strom des Lasters und der Sklaverei aufzuhalten suchen. Zwölf sollen den innern Bund ausmachen. Jeder nimmt einen Sohn an, der ihm nach seinem Tod folgt; sonst wählen die Elf. Ohne Einwilligung des Bundes darf künftig niemand etwas drucken lassen. Klopstock selbst will sich diesem Gesetz unterwerfen." Schon 1773 verließen einzelne Mitglieder (auch die beiden Stolberg) Göttingen. Am 2. Juli 1774 ward Leisewitz, der spätere Dichter des "Julius von Tarent", aufgenommen, im September 1774 der kleine Kreis der zurückgebliebenen Mitglieder durch einen mehrtägigen Besuch Klopstocks erfreut. Gleichwohl löste sich der Bund unmittelbar darauf durch Zerstreuung seiner Mitglieder auf; Voß, welcher Seele und Mittelpunkt desselben gewesen war, verließ Göttingen im Frühjahr 1775, übernahm allerdings in demselben Jahr die Redaktion des "Musenalmanachs" aus Boies Händen und wußte wenigstens