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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Gedächtniswappen; Gedackt; Gedanit; Gedanke; Gedankenlesen

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Gedächtniswappen - Gedankenlesen

prägung war die Hauptsache. Gegen dieses Verfahren erhob sich im 17. Jahrh. eine Reaktion. Ratke Ratichius, gest. 1635) stellte den Grundsatz auf: "Nichts soll auswendig gelernt werden; es ist ein Zwang der Natur, man thut dem Verstand Gewalt an." Comenius (gest. 1670) wollte, "daß der Schüler nichts lerne, was er nicht begriffen habe". Ebenso erklärte sich Rousseau entschieden gegen dieses Auswendiglernen, und eine ähnliche Stellung nahmen Basedow und die Philanthropisten ein. In neuerer Zeit hat sich die Anschauung durchgebildet, daß besser ein Mittelweg einzuschlagen und daß auch die Stärkung des Gedächtnisses als eine hochwichtige Aufgabe des Unterrichts zu betrachten sei. Dazu bietet jeder Gegenstand reichlichen Stoff. Was zum Verständnis gebracht ist, soll auch befestigt werden; doch nicht bloß in einer Form, sondern es soll durch vielfache Verknüpfungen mit den übrigen geistigen Elementen zum vollständigen Eigentume des Geistes gemacht werden. Es macht sich daher das Bestreben geltend, die schriftlichen, namentlich stenographischen Notizen der Schüler im Unterricht einzuschränken und durch geeignete G. zu ersetzen. Aber auch der wörtlichen Einprägung solcher Stoffe, die durch Inhalt und Form wertvoll sind, z. B. Sprüche, Sentenzen, klassische Dichtungen, ist ihr Recht zuzugestehen. Diese müssen aber planmäßig, im Anschluß an den übrigen Unterricht, ausgewählt, auf das rechte Maß beschränkt werden und vor dem Lernen zum Verständnis gebracht sein. Auswendiglernen bloß zum Zwecke der Gedächtnisübung ohne Rücksichtnahme auf den übrigen Unterricht und ohne daß vorher ein klares Verständnis herbeigeführt ist, ist jedenfalls zu verwerfen.

Gedächtniswappen, s. Wappen.

Gedackt (d. h. gedeckt), Bezeichnung der gedeckten, d. h. der an ihrer Mündung verschlossenen Labialpfeifen der Orgel, namentlich für tiefe Stimmen im Gebrauch. Ihr Klang entbehrt der Helle und Frische; da sie aber eine Oktave tiefer stehen als die offenen Flöten von gleicher Länge, geben sie billige und wenig Platz einnehmende tiefe Register ab.

Gedanit, mürber Bernstein, ein unter dem Ostseebernstein vorkommendes fossiles Harz, das sich vom Bernstein durch geringere Härte und dem Mangel an Bernsteinsäure unterscheidet; G. findet bisweilen wie Bernstein Verwendung.

Gedanke heißt jedes Produkt des Denkens (s. d.). Oft bezeichnet es das Gedachte, sofern es nicht schon ein Erkanntes ist, also das bloß Gedachte, das vielleicht in Wirklichkeit gar nicht stattfindet. Daher heißt ein Gedankending ein bloß im Gedanken existierendes, fingiertes Ding. Denken läßt sich alles Mögliche, erkennen nur das Wirkliche. Inwiefern der G. auch über die Grenzen möglicher Erfahrung sich zu erheben vermag, s. Noumenon.

Gedankenlesen (engl. thought-reading ooder mind-reading), die angebliche Kunst, durch "psychische Strahlung" oder "magnetischen Rapport" die Gedanken anderer zu erraten, ward bereits in den "Makamen" des Hariri erwähnt und schon vor Jahrhunderten von den türk. Derwischen und den ind. Fakirs geübt. Aber erst seit 1875, als in Neuyork der Amerikaner Brown zuerst öffentlich als "Gedankenleser" auftrat und etwas später der Engländer Irving Bishop sowie der Antispiritist Stuart Cumberland oder, wie er eigentlich heißt, Charles Garner öffentliche Schaustellungen über das G. in fast allen Großstädten des Kontinents gaben, wurde die Aufmerksamkeit der Gebildeten sowie das Interesse der Physiologen und Philosophen auf die anscheinend so wunderbare Kunst gelenkt.

Die gewöhnlichste Form des G. besteht darin, daß in Abwesenheit des Gedankenlesers ein beliebiger Gegenstand versteckt oder eine bestimmte Person, Zahl, Silbe u. dgl. in Gedanken genommen wird, worauf der Gedankenleser in die Gesellschaft zurückkehrt und sich einige Wissende zu "Medien" erwählt; mit verbundenen Augen erfaßt er sodann das Medium, dessen Gedanken er erraten soll, bei der Hand, fordert es laut auf, seine Gedanken auf die zu suchende Person oder Sache fest zu konzentrieren und führt es sodann nach längerm oder kürzerm Suchen auf den gedachten Gegenstand zu. Sollen Zahlen oder Worte erraten werden, so führt er die Hand des Mediums wiederholt über ein Blatt oder eine Tafel, auf welcher die Buchstaben des Alphabets oder die zehn Zahlzeichen vorgezeichnet sind, und zeigt mit verbundenen Augen auf die gedachte Zahl oder Silbe; auf ähnliche Weise werden gedachte Figuren, Melodien u. dgl. erraten. Bei geübten Gedankenlesern erfolgt das Finden und Erraten der gedachten Person, Zahl oder Sache gewöhnlich ziemlich schnell und sicher; doch kommt es nicht selten vor, daß erst ein zweites oder drittes Medium zu Hilfe genommen werden muß, das seine Gedanken "besser zu konzentrieren" versteht.

Die richtige Erklärung des G. gab zuerst der amerik. Nervenarzt G. M. Beard, indem er in seiner Abhandlung "Physiologie des Gedankenlesens" (1877) den Nachweis führte, daß die Manipulationen des Gedankenlesers auf leicht verständliche Weise durch gewisse unbewußt erfolgende Muskelbewegungen des sog. Mediums zu stande kommen. Den direkten experimentellen Beweis hierfür lieferte sodann der Physiolog William Preyer, der 1886 eine Reihe geistvoller Untersuchungen über das G. veröffentlichte. Danach steht fest, daß die allermeisten Menschen, wenn sie scharf und unverwandt an einen Gegenstand denken, mit ihren Händen völlig unbewußt gewisse Muskelbewegungen ausführen, die zwar äußerst schwach, aber doch immerhin noch kräftig genug sind, um von einem geübten Gedankenleser gefühlt zu werden. Das Vorhandensein derartiger minimaler Muskelkontraktionen hat Preyer durch einen eigens von ihm konstruierten, sehr empfindlichen Apparat, den Palmographen, nachgewiesen, welcher die schwächsten Bewegungen graphisch darzustellen gestattet. Nun besteht zwischen der Richtung, in welcher diese kleinen Muskelstöße erfolgen, und dem fixierten Gedanken die einfache Relation, daß der Gedankenleser nur der Richtung der Stöße zu folgen braucht, um zum Ziele zu gelangen. Wenn also z. B. eine Stecknadel versteckt wurde und diese vom Gedankenleser gesucht werden soll, so wird dieser durch die unbewußten Muskelbewegungen des Mediums dorthin geführt, wo sich die Nadel befindet, und soll eine bestimmte Zahl geschrieben oder der Umriß eines Tieres gezeichnet werden, so führt der an die Zahl oder an das Tier beständig Denkende dem Gedankenleser gewissermaßen die Hand, ähnlich wie die Mutter dem Kinde bei den ersten Schreibversuchen. Natürlich sind die fraglichen Muskelbewegungen des Mediums außerordentlich schwach und kurzdauernd, und es gehört ein besonderes Geschick und eine gewisse Feinfühligkeit dazu, um sie in genügender Weise wahrzunehmen. Der Name G. würde sonach besser durch