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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gesetzbuch; Gesetzentwurf; Gesetzesauslegung

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Gesetzbuch - Gesetzesauslegung.

getragen haben, nicht auch auf frühere, weder der Form noch der Folge nach, angewendet werden können. Nur ausnahmsweise hat ein G. dann rückwirkende Kraft, wenn es bloß eine authentische Auslegung eines frühern Gesetzes enthält, obwohl dieses eigentlich keine wahre Ausnahme ist, oder wenn rückwirkende Kraft ausdrücklich oder sonst unzweifelhaft geboten ist. Letzteres ist der Fall bei Gesetzen, welche das Dasein oder die Natur einer gewissen Art von Rechtsverhältnissen normieren, z. B. Aufhebung von Zehnten, Leibeigenschaft, Lehen, Familienfideikommissen. Ohne Rückwirkung würden solche Gesetze meistens gar nicht zur Anwendung gelangen können, die Rückwirkung wird aber häufig durch Entschädigung (Ablösung) gemildert. Es erstreckt sich dann, wenn das G. selbst keine Grenze bezeichnet, die rückwirkende Kraft auf alle durch Zahlung, Vergleich oder richterliche Entscheidung noch nicht erledigten Sachen. Die Wirksamkeit und Gültigkeit eines Gesetzes dauert fort, bis es entweder selbst oder in seiner Anwendung wieder aufgehoben wird. Die Aufhebung der Gesetze erfolgt entweder mit dem Ablauf der Zeit, für welche, oder mit dem Eintritt der Resolutivbedingung, unter welcher das G. gegeben worden war, oder durch ein neues G., welches das bisherige entweder geradezu und ausdrücklich wieder aufhebt, oder eine demselben entgegenstehende Vorschrift erteilt, oder durch Gewohnheit. In seiner Anwendung fällt ein G. dann weg, wenn sein Gegenstand nicht mehr vorkommt. Doch ist mit dem Wegfallen des Gegenstandes eine analoge Anwendung des Gesetzes auf ähnliche Fälle nicht ausgeschlossen, sowenig als die Anwendbarkeit eines Gesetzes dann schon von selbst wegfällt, wenn der zur Erlassung desselben vorhanden gewesene Grund nicht mehr vorliegt.

Gesetzbuch (Landrecht, Landesordnung, lat. Codex, franz. Code), systematische Zusammenstellung des in einem Land oder einem Distrikt gültigen Rechts, welche entweder von der gesetzgebenden Gewalt selbst bewirkt, oder wenigstens von derselben gutgeheißen und anerkannt worden ist. Solche Gesetzbücher sind das Corpus juris civilis und das Corpus juris canonici, das preußische Landrecht, das österreichische und bayrische G., der Code Napoleon etc. Unter Gesetzsammlung versteht man dagegen gewöhnlich eine solche Aufzeichnung und Zusammenstellung von Gesetzen, welche entweder ohne systematische Ordnung nur nach und nach, wie es das Bedürfnis an die Hand gibt, erfolgt, oder gar nicht von der gesetzgebenden Gewalt, sondern nur von Privatpersonen ausgeht. Im Deutschen Reich erhalten nach § 2 der Reichsverfassung die Reichsgesetze ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichs wegen, welche vermittelst des Reichsgesetzblattes (1866-70, "Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes") erfolgt. Die einzelnen Gesetzbücher s. bei den betreffenden Staaten.

Gesetzentwurf, eine Ausarbeitung, welche den Erlaß eines Gesetzes in Vorschlag bringt und die Formulierung desselben enthält. Ein solcher G. kann eine Privatarbeit sein, z. B. von einem hervorragenden Fachmann, von einer wissenschaftlichen Autorität ausgearbeitet; er kann von einer Korporation, z. B. von einer Handelskammer, ausgehen, oder er wird von einem der gesetzgebenden Faktoren, von der Regierung oder von den Ständen, vorgelegt. In dem letztern Fall ist auch die Bezeichnung Gesetzvorschlag (s. d.) gebräuchlich.

Gesetzesauslegung (Interpretation des Rechts im weitern Sinn), die auf Erforschung des Inhalts eines Gesetzes gerichtete Thätigkeit und die Ableitung von Rechtssätzen aus einer gegebenen Rechtsquelle. Die juristische Interpretation setzt eine vorhandene Rechtsquelle voraus. Möglicherweise können aber über die Echtheit des Textes dieser Rechtsquelle Zweifel obwalten, und es muß dann zunächst eine wissenschaftliche Untersuchung stattfinden. Eine solche Feststellung des echten Textes einer Gesetzesurkunde bezweckende Untersuchung und Prüfung heißt Kritik; sie kann sich auf die Echtheit der Urkunde im ganzen (höhere Kritik) oder nur auf einzelne Teile (Sätze und Worte) derselben (niedere Kritik) beziehen. Wer aber den wirklichen Inhalt eines Gesetzes kennen will, muß den Willen des Gesetzgebers erforschen: dies die juristische Interpretation im engern Sinn. Die hierzu regelmäßig zu Gebote stehenden Mittel sind zunächst grammatische. Der Ausleger hat aus dem grammatischen Zusammenhang die Bedeutung der Gesetzesworte festzustellen (grammatische Auslegung). Von den hierbei zu beobachtenden Grundsätzen und Regeln, deren Inbegriff die juristische Hermeneutik bildet, sind namentlich folgende hervorzuheben: Hat ein Wort zu verschiedenen Zeiten verschiedene Bedeutungen gehabt, so muß man es in dem Sinne nehmen, welcher zur Zeit der Erlassung dieses Gesetzes der herrschende war. Da sich die Gesetze gewöhnlich im Maskulinum ausdrücken, so ist dies im Zweifel auch auf das weibliche Geschlecht zu beziehen. Wenn ferner ein Gesetz eine Anordnung für gewisse bestimmte Fälle gibt, so liegt darin nach der grammatischen Auslegung, daß sie eben auch nur für diese Fälle bestimmt ist, daß also in allen andern Fällen das Gegenteil gelten soll (argumentum a contrario). Oft drückt sich aber der Gesetzgeber dunkel, unklar und zweideutig aus oder gebraucht einen Ausdruck, welcher mehr besagt, als er an und für sich sagen wollte, oder der seinen Gedanken nicht vollständig wiedergibt. In solchen Fällen muß man noch jedes weitere Mittel, welches über den wirklichen Willen des Gesetzgebers Aufschluß geben kann, anwenden, und die Anwendung solcher Mittel nennt man logische Interpretation. Dahin gehören die Berücksichtigung der historischen Verhältnisse, unter denen, und der Gelegenheit, bei welcher das Recht entstanden ist, der spezielle Veranlassungsgrund und in unsern konstitutionellen Staaten die Motive, mit welchen ein Gesetzvorschlag den Ständen vorgelegt wird, sowie die Verhandlungen der Volksvertretung über ein proponiertes Gesetz. Findet man hierbei, daß die Absicht des Gesetzgebers weiter geht als der gewöhnliche Wortsinn, so ist die weitere Bedeutung (extensive Interpretation) zu wählen; findet man aber, daß die Worte zu weit gefaßt sind, dann ist die gewollte engere Bedeutung zu nehmen (restriktive Interpretation). Im Zweifel ist die mildere und billigere Meinung vorzuziehen. Korrektorische Gesetze, singuläre Rechte und Privilegien sind im Zweifel so zu interpretieren, daß die geringste Abweichung von dem bestehenden Recht angenommen wird. Strafgesetze sind in der Regel in dem engern Wortsinn zu nehmen; eine ausdehnende Interpretation ist aber auch hier zulässig, nur ist diese wohl zu unterscheiden von der Analogie (s. d.). Im Gegensatz zu diesen beiden Interpretationsarten, der grammatischen und logischen, welche man unter der Bezeichnung Doktrinalinterpretation zusammenzufassen pflegt, steht die Legalinterpretation, d. h. eine Auslegung, welche nicht durch die Wissenschaft, sondern durch eine rechtserzeugende Gewalt geschieht; diese kann die Gesetzgebung (authen-^[folgende Seite]