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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Homöopathie

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Homöopathie.

Homöopathie (griech.), ein von Samuel Hahnemann (s. d.) erfundenes Heilsystem, dessen Name nur zu verstehen ist, sobald man das Hauptprinzip der H. begriffen hat. Dieses Prinzip geht von dem Dogma aus, daß jedes Heilmittel im gesunden Körper eine Krankheit hervorrufe, wie solche auch selbständig entstehen kann, und daß es darauf ankomme, eine jede Krankheit durch das ihr ähnliche (homoios) Mittel (similia similibus) zu bekämpfen. Es würde zu weit führen, das mystische, überall den Erfahrungen der Chemie, Physik und Pathologie widersprechende System, das, anstatt auf Beobachtungen, auf gänzlich unbewiesenen Glaubenssätzen aufgebaut ist, hier auszuführen, zumal eine treue Wiedergabe bei den vielfachen Änderungen, welche die H. täglich erfährt, ganz unmöglich wäre. Das philosophische Beiwerk ist auch nicht von so großer praktischer Bedeutung wie die Heilmethode selbst. Hier steht obenan wiederum ein Satz, der so aller täglichen Erfahrung widerstreitet, daß wohl nur das unbegreiflich Paradoxe viele gläubige Menschen fesseln mag; er lautet: "Je geringer die Dosis der Arznei, um so größer die Wirkung!" Wer diesen Glaubensartikel auf die tägliche Nahrung ausdehnte, würde wohl bald bekehrt werden; allein die H. treibt mit ihm einen eigentümlichen Kultus: "Durch anhaltendes Schütteln und Reiben wird die Wirkung der Arzneien am meisten verstärkt und zwar bis zu völliger Auflösung des arzneilichen Stoffes zu lauter arzneilichem Geiste. Dies geht so weit, daß selbst solche Substanzen, die im rohen Zustand gar keine arzneiliche Wirksamkeit haben, wie Blattgold, Blattsilber, Kohle, je länger sie gerieben und verdünnt werden mit und durch unarzneiliche (also unarzneiliche mit unarzneilichen) Substanzen, um so höhere arzneiliche Kraft entwickeln. So wirkt z. B. das Gold in der 12. Verdünnung so stark, daß bloßes Daranriechen schon hinreicht, die zum Selbstmord treibende Melancholie in einer Stunde zu vernichten und volle Liebe zum Leben zurückzurufen. Im Reiben und Schütteln ist Maß zu halten, damit man die Potenzierung nicht zu weit treibe; denn ein Tropfen von Drosera, in 30. Verdünnung mit 20 Armschlägen bei jeder Verdünnung geschüttelt, bringt ein am Keuchhusten erkranktes Kind in Lebensgefahr, während er, wenn nur zweimal geschüttelt wurde, dasselbe leicht heilt. Ebendeshalb muß man auch höchst genau bei der Bereitung der Arzneien verfahren und stets bezeichnen, wie stark Verdünnung und Potenzierung ist. Man nimmt von der zu verdünnenden Arznei, wenn sie flüssig ist, 1 Tropfen und vermischt ihn mit 100 Tropfen destillierten Wassers oder Weingeistes, indem man das Gläschen zwei- bis zehnmal mit kräftigen Armschlägen auf- und niederschüttelt; wenn es Pulver ist, nimmt man 1/16 g und zerreibt es 10 Minuten lang, indem man abwechselnd 10 Sekunden reibt und 4 Sekunden lang zusammenscharrt, mit 6,25 g Milchzucker. Pulver brauchen nur bis zur 3. Verdünnung verrieben zu werden, da sie von da ab schon auflöslich sind. Man bringt dann, da die flüssige Form leichter zu behandeln ist als Pulver, 1/16 g desselben in 100 Tropfen Flüssigkeit und verfährt nun, als wenn die Arznei ursprünglich flüssig gewesen wäre. Soll von diesen Arzneien 1 Tropfen gegeben werden, so bezeichnet man dies durch eine arabische Eins; ist es aber wegen der großen Kraft der Arzneien nötig, die in möglichst kleinem Raum anzuwenden, so nimmt man Streukügelchen, vom Konditor aus Stärkemehl oder Zucker bereitet, von denen etwa 200 auf 1/16 g gehen, befeuchtet diese Kügelchen mit der verlangten Verdünnung und läßt sie wieder trocken werden. Von diesen Kügelchen nimmt man nun, je nach der Absicht, 1, 2 oder 3 und bezeichnet diese Absicht im Rezept mit ebenso vielen Punkten. Wo aber die Kraft des Mittels selbst bei einem dieser Kügelchen noch so groß ist, daß die Wirkungsdauer, wie z. B. beim Kaustikum und beim Kochsalz, über 50 Tage anhält, da ist es besser, an einem solchen Streukügelchen nur riechen zu lassen, was die Wirkungsdauer ungefähr um die Hälfte abkürzt. Solange die Besserung in irgend einer Krankheit anhält, darf keine neue Anwendung irgend eines Mittels erfolgen. Erst wenn die Besserung einen Stillstand macht und die Krankheit doch noch fortdauert, hat man, da nun die Wirkungsdauer des vorigen Medikaments beendet ist, die Krankheitssymptome von neuem zu prüfen und von neuem ein passendes Mittel auszuwählen, das nur selten dasselbe sein wird. Wäre es aber der Fall, so muß es in immer kleinerer Gabe gereicht werden, um die Besserung nicht zu stören; denn jede zweite Gabe derselben Arznei hebt zum Teil die Wirkung der ersten wieder auf durch Äußerung der gegenteiligen Wechselwirkung. Verschlimmert sich aber die Krankheit, so war die Arznei nicht homöopathisch gewählt, und hier darf man die Wirkungsdauer der gereichten Gabe nicht abwarten, sondern muß eine andre, genauer passende Arznei geben."

Diese Probe dürfte ausreichen, um zu zeigen, daß die H. dem gesunden Verstand mehr als dem kranken Körper zumutet, und es ist bedauerlich, daß aus Mangel an Kritik die H. von vielen Dilettanten und Dilettantinnen selbst in Fällen betrieben wird, bei denen im Vertrauen auf die Zuckerkügelchen die rechtzeitige ärztliche Hilfe verabsäumt wird. Ein Verdienst, wenn auch ein mehr negatives, hat sich der Begründer der H. allerdings um die Heilkunst erworben; denn er hat durch sein Verfahren den Beweis dafür geliefert, daß viele Krankheiten, bei zweckmäßiger Diät, auch ohne allen Arzneigebrauch gehoben werden können. Wie in diesem Punkt, so nähern sich überhaupt die Anhänger der H. in der Neuzeit in vielen Beziehungen den therapeutischen Grundsätzen der modernen wissenschaftlichen Medizin, indem sie manche Sätze Hahnemanns aufgegeben, andre bedeutend abgeändert, die ins Unendliche gehenden Verdünnungen abgeschafft und die Arzneien stoffreicher gemacht sowie insbesondere die pathologischen und physiologischen Entdeckungen der neuern Heilkunde sich angeeignet und für die Behandlung der Kranken nutzbar zu machen gesucht haben. Diese Fraktion der Homöopathen ist besonders vertreten in Hirschels "Zeitschrift für homöopathische Klinik" (1851-79) und in der "Homöopathischen Vierteljahrsschrift" (1850-64). Während die H. früher ausschließlich von Laien, d. h. von Personen betrieben wurde, welche ohne medizinische Vorkenntnisse nur nach vorgeschriebenem Schema Verordnungen trafen, zählt die H. der Neuzeit zahlreiche approbierte Ärzte zu ihren Anhängern, von denen allerdings die wenigsten ausschließlich nach den Hahnemannschen Grundsätzen verfahren, sondern je nach Ermessen bald homöopathische Mittel, bald die großen Gaben der von ihnen so heftig bekämpften medizinischen Schulen verordnen. Eine wirksame Unterstützung gewährt der H. die ihr vom Staat zugestandene Dispensierfreiheit, welche den Homöopathen gestattet, ihre Mittel selbst zu bereiten und zu verkaufen, während die Ärzte solche nur durch den Apotheker herstellen und abgeben lassen dürfen. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika blüht die H. unter staatlichem Schutz mit denselben Rechten wie die übrigen medizinischen Schulen. Es gibt daselbst auch Hospitäler,