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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kanon; Kanonade; Kanone

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Kanon - Kanone.

gen für die Auflösung des Kanons (Rätselkanon), welche schließlich bis zur Unmöglichkeit des Verstehens auf die Spitze getrieben wurden. Allmählich ging dann der Name K. auf die Komposition selbst über, deren alter Name Fuga (s. Fuge) oder Conseguenza war. Je nach dem Intervall, in welchem die zweite Stimme höher oder tiefer einsetzt als die erste, unterscheidet man den K. im Einklang, bei welchem die Stimmen thatsächlich dieselben Töne vortrugen, aber so, daß die zweite (imitierende) Stimme einen halben oder ganzen Takt oder mehr nach der andern einsetzt; beim K. in der Oktave bringt die zweite Stimme die Melodie eine Oktave höher oder tiefer; der K. in der Unterquinte transponiert dieselbe um eine Quinte nach der Tiefe, wobei eine weitere Unterscheidung zu machen ist, ob nämlich die nachfolgende Stimme alle Intervalle genau wiedergibt oder dieselben nach den Verhältnissen der herrschenden Tonart einrichtet. Gleichermaßen gibt es Kanons in der Oberquinte, Quarte, Ober- und Untersekunde etc. Der drei- und mehrstimmige K. verbindet in der Regel mehrere der genannten Arten. Weitere Varianten entstehen durch Verlängerung oder Verkürzung der Notenwerte in der nachahmenden Stimme (Canon per augmentationem oder diminutionem) oder durch Umkehrung aller Intervalle (al inverso, per motum contrarium), so daß, was vorher stieg, dann fällt, oder gar so, daß die zweite Stimme die Melodie von hinten anfängt (Canon cancricans, Krebskanon). Der K. hat entweder keinen Schluß, sondern läuft in den Anfang zurück, in welchem Fall er auch wohl scherzweise in Kreisform notiert wird (Kreiskanon, Fuga circularis, Canon infinitus), oder er kann zwar ad libitum repetiert werden, hat aber durch Fermaten angedeutete Schlußnoten, oder endlich er hat einen angehängten freien Schluß (coda). Der Doppelkanon ist die kontrapunktische Verbindung zweier Kanons. Seine höchste Blüte feierte der K. in den Meisterwerken der niederländischen Kontrapunktisten des 15. und 16. Jahrh.; doch hat er bis in die neueste Zeit hinein noch eingehende Pflege gefunden und wird neben der Fuge vor Abschluß der Kontrapunktstudien von der Schule thunlichst berücksichtigt. Von Bach haben wir 9 Kanons in den "30 Variationen", von Mozart 23, von Weber 8 Kanons; außerdem seien genannt Kiels "15 Kanons im Kammerstil", Weitzmanns "Musikalische Rätsel", die Kanonsammlung in Spohrs Autobiographie und die zahlreichen kanonischen Kompositionen S. Jadassohns. Die Lehre des Kanons findet sich regelmäßig in denselben Büchern abgehandelt wie die der Fuge (s. d.). Vgl. auch Ambros, Geschichte der Musik, Bd. 3, und Klauwell, Der K. in seiner geschichtlichen Entwickelung (Leipz. 1877). - Die Alten nannten das Monochord K., weil vermittelst desselben die mathematischen Intervallbestimmungen (Oktave = ½ der Saitenlänge etc.) bestimmt wurden; deshalb wurden auch die Pythagoreer, deren musikalische Theorie auf dem K. fußte, Kanoniker genannt, im Gegensatz zu den Harmonikern (Aristoxenos und seine Schule), welche von der Mathematik in der Musik nicht viel hielten.

Kanon (griech.) bezeichnet in der Kirchensprache teils das Verzeichnis der biblischen Bücher, welche für inspiriert gelten und in den gottesdienstlichen Versammlungen gelesen werden, im Gegensatz zu den Apokryphen (s. Kanonische Bücher), teils jede kirchliche Vorschrift und Regel, daher später besonders gebraucht im Gegensatz zum bürgerlichen Gesetz (kanonisches Recht); ferner die Gebetsformel der römischen und griechisch-katholischen Kirche vor, bei und nach der Konsekration in der Messe (Meßkanon) sowie ein bestimmter Kirchengesang der griechischen Kirche; endlich das Verzeichnis der von der Kirche anerkannten Heiligen. -

In der Philosophie heißt K. jeder Grundsatz und in der kritischen Philosophie die Wissenschaft vom richtigen Gebrauch des Erkenntnisvermögens; daher Titel einer Schrift Epikurs, worin dieser die obersten Grundsätze des Denkens zusammengestellt und erörtert hat. -

In der Mathematik, vorzüglich in der Algebra, ist K. eine allgemeine Formel, die bei Lösung einer Aufgabe herauskommt, und nach welcher die unter der allgemeinen Aufgabe begriffenen Exempel auszurechnen sind. -

In der bildenden Kunst bezeichnet das Wort K. Statuen, die als Muster gelten, vorzüglich in Hinsicht auf die Verhältnisse des menschlichen Körpers (s. Proportion). Die Bezeichnung rührt von einem berühmten Werk des griechischen Bildhauers Polyklet, der Statue eines Speerträgers (Doryphoros, s. d.), her, welche ihrer den Künstlern als Vorbild dienenden Proportionen wegen den Beinamen K. erhielt. (Vgl. Friederichs, Der Doryphoros des Polyklet, Berl. 1863) Auch die Künstler des alten Ägypten hatten ihren K., eine feststehende Regel der Verhältnisse des menschlichen Körpers. Sie pflegten nämlich nach bestimmt proportionierten Modellen zu arbeiten, die sie in ein Netz von Quadraten einzeichneten, um so für jeden Punkt die entsprechende Lage festzuhalten. Für die menschliche Gestalt bildete die Einheit dieses Kanons nach einigen die Länge des Fußes, nach andern des mittlern Fingers. Nach Diodor hätten die Ägypter den Körper vom Scheitel bis zur Sohle in 21¼ Teile zerlegt. Aber die mancherlei Zeichnungen und Skulpturen, die noch unvollendet und mit solchen Quadratierungen versehen erhalten sind, weichen in der Zahl der Quadrate, welche auf die Körperlänge kommen, zwischen 15 und 23 so erheblich voneinander ab, daß man zwei oder drei verschiedene Proportionsregeln, welche die Ägypter nacheinander befolgt hätten, aufstellen zu müssen geglaubt hat. Als zwei verschiedene Kanons der Proportion kann man jedoch nur im allgemeinen die ältere Epoche der ägyptischen Kunst, welche mehr Kraft und Fülle auszeichnet, und die jüngere, welche Eleganz und Zierlichkeit anstrebt, gelten lassen. -

In der Philologie versteht man unter K. das von den alexandrinischen Grammatikern herrührende kritische Verzeichnis der alten Schriftsteller. -

In der Chronologie nennt man K. Zeittafeln bestimmter Art, z. B. die der sogen. Goldenen Zahl, der Epakten, der Ostern; in der Astronomie vorzüglich Tafeln für die Bewegungen der Himmelskörper etc. -

In der Rechtssprache ist K. Bezeichnung für eine jährliche Geldabgabe von Grundstücken, Häusern, also s. v. w. Erb-, Grundzins, Gült etc. -

In der Buchdruckerkunst versteht man darunter eine Art großer Lettern, mit denen ehedem die Meßkanons gedruckt wurden, die jetzt aber gewöhnlich nur auf Titeln, Anschlagzetteln etc. Anwendung finden; kleine K. hält 32 oder auch 36, grobe K. 40 oder 48 typographische Punkte (vgl. Schriftarten).

Kanonade, andauerndes Artilleriefeuer.

Kanone (v. lat. canna, "Röhre", oder dem ital. cannone, "großes Rohr"), der ältern Kartaune entsprechend, Geschützrohr von größerer Länge als die Haubitzen oder Mörser gleichen Kalibers, welches mit verhältnismäßig starker Ladung schießt. Die kurzen Kanonen der deutschen Artillerie entsprechen etwa den frühern Haubitzen. Die Länge der K. wird in der Regel in Kalibern abgekürzt als L/25 oder L/35 (25