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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Sociale Frage

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Sociale Frage

vortreten, aus den europ. Ländern importiert sind, daß sie aber als polit. Partei gewisse Besonderheiten aufweist. Unter den verschiedenen Arbeiterorganisationen in den Vereinigten Staaten sind die wichtigsten: der Amerikanische Arbeiterbund (Federation of Labor); derselbe wird gebildet von den Gewerkschaften, deren Geist und Tendenzen an die alten engl. Trade Unions erinnern; hinsichtlich der Arbeiterbewegung kämpft er noch auf dem Boden des Lohnsystems. Dieser Bund hat die Initiative ergriffen zu einer Bewegung, die neuerdings zu Gunsten des achtstündigen Normalarbeitstags wieder begonnen hat. Die Federation bemüht sich fortgesetzt, neue Koalitionen zu schaffen; sie hofft darauf, alle Lohnarbeiter zu ökonomischen Kampfvereinen zusammenzuziehen, und verteidigt das Klassen- und Solidaritätsgefühl aller Arbeiter des Landes. In noch erheblicherm Maße ist der socialistische Gedanke in den Central Labor Unions, den Vereinigungen der organisierten Lohnarbeiter großer Städte oder Industriebezirke, verbreitet. Eine andere große Organisation ist der Orden der Knights of Labor (s. d.), der in den letzten Jahren immer mehr socialistisch geworden ist. Während z.B. früher nur die Gründung von Produktivgenossenschaften und Konsumvereinen gefordert wurde, wird in dem heutigen Statut die Gründung von Kooperativgenossenschaften verlangt. Vom 29. Juni bis 2. Juli 1896 tagte in Neuyork die erste Konvention der "Socialist Trade and Labor Alliance", des neuen nationalen gewerkschaftlichen Centralverbandes, der im Nov. 1895 kurz nach der Generalversammlung der "Knights of Labor" gegründet wurde. Erwähnt sei noch die Agitation unter den aus Rußland vertriebenen Juden, die in Neuyork, wie auch in London als Handwerker, namentlich als Schneider leben. Es erscheinen zahlreiche Zeitungen in hebr. Lettern.

In Australien trägt die Bewegung vorwiegend gewerkschaftlichen Charakter; der Achtstundentag ist hier fast durchgeführt.

Litteratur. Eine sehr reichhaltige Übersicht über die gesamte Litteratur der S. bietet Stammhammer, Bibliographie des Socialismus und Kommunismus (Jena 1893). Außerdem sind zu vergleichen die Schriften und Broschüren von Bebel, Kautsky, Liebknecht u. s. w., die Artikel der Revue "Neue Zeit" (Stuttg. 1884 fg.), die "Berliner Arbeiterbibliothek" (3 Serien, Berlin), die "Internationale Bibliothek" (2 Serien, Stuttgart), die offiziellen Protokolle und Programme der Partei, sowie der Artikel S. von G. Adler im "Handwörterbuch der Staatswissenschaften"; F. Mehring, Die deutsche S., ihre Geschichte und ihre Lehre (3. Aufl., Brem. 1879); ders., Geschichte der deutschen S. (Stuttg. 1897 fg.); Held, Die Arbeiterpresse der Gegenwart (Lpz. 1873); ders., Socialismus, S. und Socialpolitik (ebd. 1878); R. Meyer, Der Emancipationskampf des vierten Standes (2. Aufl., 2 Bde., Berl. 1882); von Scheel, Unsere socialpolit. Parteien (Lpz. 1878); G. Adler, Geschichte der ersten socialpolit. Arbeiterbewegung in Deutschland (Bresl. 1885); Oldenberg, Die Ziele der deutschen S. (Lpz. 1891); Schäffle, Die Quintessenz des Socialismus (13. Aufl., Gotha 1891); ders., Die Aussichtslosigkeit der S. (4. Aufl., Tüb. 1891); Laveleye, Der Socialismus der Gegenwart (Halle 1895); Kathrein, Der Socialismus (6. Aufl., Freiburg 1894); G. Adler, Die Entwicklung des socialistischen Programms (in Conrads "Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik", Neue Folge 1891); A. Wagner, Das neue socialdemokratische Programm (Berl. 1892); Kautsky, Das Erfurter Programm (Stuttg. 1892); Kautsky und Schoenlank, Grundsätze und Forderungen der S. (Berl. 1892); E. Richter, Die Irrlehren der S. (ebd. 1890); Bosanquet, Aspects of the social problem (Lond.1895); Stammler, Wirtschaft und Recht (Lpz. 1896); Marx, Revolution und Kontre-Revolution (deutsch, Stuttg. 1896). Für die Geschichte der deutschen S.: Der Leipziger Hochverratsprozeß von 1872 (neue Ausg., Berl. 1894); Huber, Die Philosophie in der S. (Stuttg. 1894); Bourdeau, Le socialisme allemand (Par. 1892); Berghoff-Ising, Die socialistische Arbeiterbewegung in der Schweiz (Lpz. 1895); Vandervelde, Les institutions economiques du parti ouvrier belge (Brüss. 1894); Sidney Webb, Socialism in England (Lond. 1890); Sidney und Beatrice Webb, The History of Trade Unionism (ebd. 1894); Mermeix, La France socialiste (Par. 1886); Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich (Neue Ausg., Berl. 1895); Sombart, Studien zur Entwicklungsgeschichte des ital. Proletariats (in Brauns "Archiv", ebd. 1893); ders., Socialismus und sociale Bewegung im 19. Jahrh. (Jena 1896); Ely, The labour movement in America (Neuyork 1886). (S. auch Socialismus.)

Sociale Frage, ein Schlagwort, das zunächst in einem ganz allgemeinen Sinne aufzufassen ist. Im allgemeinsten Sinne wird von einer S. F. gesprochen, wenn man glaubt, daß die Zustände des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht derartig sind, daß sie dem Ideal einer rationell gestalteten Gesellschaftsordnung sich anzunähern geeignet sind. Je nach dem Ideal, das jemand für die sociale Gestaltung hat, wird die S. F. für ihn eine andere Form annehmen. Überall, wo offenbare Schäden am ganzen Gesellschaftskörper hervortreten, wie z. B. Absatzkrisen, Übervölkerung, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, da spricht man von Einzelerscheinungen der S. F. In einem andern, ebenfalls allgemeinen Sinne sucht man dann kurz die S. F. in einzelnen Gesellschaftsklassen, und zwar spricht man überall da von S. F., wenn die ökonomische Lage gewisser gesellschaftlicher Klassen nicht den Ansprüchen genügt, die die betreffenden Angehörigen der Klasse nach ihrer socialen Bedeutung zu stellen sich berechtigt glauben; oder wenn die ganze Lage der Angehörigen der Klasse oder eines großen Teils derselben gedrückt ist. In dieser Fassung giebt es eine S. F. zahlreicher Stände, des Handwerkerstandes, des Bauernstandes, des Arbeiterstandes, des Kaufmannsstandes, der Frauen u. s. w.

Im engern Sinne und zugleich in dem fast allgemein jetzt gebräuchlichen bedeutet die S. F. die Frage des Lohnarbeiterstandes, d. h. die Frage, wie die Lage des kapitallosen, im Lohn eines Arbeitgebers stehenden Arbeitnehmers gebessert werden könne. Es ist bei dieser Besserung durchaus nicht allein oder vorwiegend an eine Lohnerhöhung gedacht, sondern die ganze gesellschaftliche, sittliche, wirtschaftliche und geistige Hebung des Arbeiterstandes ist gemeint. Die S. F. als Arbeiterfrage in diesem Sinne ist besonders infolge der gänzlich veränderten Stellung des Arbeiters unter dem Einflusse der Gewerbefreiheit und der Maschinentechnik hervorgetreten. Nach dem Aufhören des Zunftwesens und mit Einführung der gewerblichen Freiheit trat der Arbeiter als freier Verkäufer seiner Ware Arbeitskraft auf den Markt; gleichzeitig wurde