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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Allgemeines Stimmrecht

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Allgemeines Stimmrecht.

Staatswesen von größerm Umfang, deren republikanische oder konstitutionell-monarchische Verfassung der Gesamtheit des Volks ein derartiges Mitwirkungsrecht einräumt, kann das Volk jenes Recht nur mittelbar, d. h. durch Abordnung von Vertretern (Volksvertretern), ausüben. Wird nun das Recht, an den Wahlen dieser Volksvertreter teilzunehmen (aktives Wahlrecht), den Staatsangehörigen unmittelbar eingeräumt, ohne Rücksicht auf ihre bürgerliche Stellung und ohne Rücksicht auf die Abgaben, welche sie zur Staatskasse entrichten, so spricht man von einem allgemeinen Stimmrecht oder von einem allgemeinen Wahlrecht oder genauer von einem allgemeinen gleichen und unmittelbaren Wahlrecht. Übrigens ist die Frage, ob man das System des allgemeinen Stimmrechts nicht auch auf andre, namentlich auf kommunale, Wahlen übertragen solle, vielfach gestellt und teilweise auch durch die Gesetzgebung in bejahender Weise beantwortet worden. Dabei ist namentlich zunächst der Unterschied zwischen direkter (unmittelbarer) und indirekter (mittelbarer) Wahl hervorzuheben. Nach dem letztern System besteht zwischen den Wählern (Urwählern) und den Gewählten das Zwischenglied der Wahlmänner, welch letztere von den Urwählern gewählt werden und dann die Abgeordneten selbst zu wählen haben. Das allgemeine Stimmrecht beseitigt dieses Zwischenglied und läßt die Abgeordneten unmittelbar von den Wahlberechtigten wählen. Dies System ist in England, Nordamerika, Frankreich, Belgien, Italien, in den meisten Schweizer Kantonen, in Sachsen und Württemberg und auch für die Wahlen zum deutschen Reichstag angenommen, während das System der indirekten Wahl in Preußen, Bayern, Baden und in verschiedenen deutschen Kleinstaaten zu Recht besteht. Einige Staaten, wie z. B. Österreich, haben ein gemischtes System. Außerdem haben aber die modernen Verfassungsurkunden, in welchen sich zum Teil auch noch Überreste des frühern ständischen Wahlrechts finden, vielfach den Grundsatz sanktioniert, daß nur derjenige die politischen Wahlrechte des Staatsbürgers ausüben könne, welcher auch zu den Lasten des Staats einen verhältnismäßigen Beitrag liefere. Hiernach wird in den meisten Verfassungsurkunden die Ausübung des aktiven Wahlrechts außer von dem Vollgenuß des Staatsbürgerrechts, wobei männliches Geschlecht der Wähler vorausgesetzt ist, von der Selbständigkeit der betreffenden Person und besonders davon abhängig gemacht, daß dieselbe irgend einen, wenn auch den niedrigsten, Steuersatz bezahle; so z. B. in der preußischen Verfassungsurkunde vom 31. Jan. 1850, § 70. Selbst die aus der ersten Revolution hervorgegangene französische Verfassungsurkunde vom 3. Sept. 1791 hatte die aktive Wahlfähigkeit nur demjenigen zugestanden, welcher zum mindesten eine dem Werte dreitägiger Arbeit entsprechende direkte Kontribution entrichte. Erst infolge der Revolution von 1848 wurde das allgemeine Stimmrecht in Frankreich eingeführt. Noch während der Republik aber und zwar gerade deshalb, weil man den Umsturz derselben durch das allgemeine Stimmrecht befürchtete, wurde es wiederum abgeschafft, bis Ludwig Napoleon dasselbe durch Plebiszit vom 2. Dez. 1852 wiederherstellen ließ, um dann, gestützt auf das Suffrage universel, die Republik selbst zu stürzen.

Nach dem Vorgang Frankreichs hatte auch die Frankfurter konstituierende Nationalversammlung durch Gesetz vom 12. April 1849 das allgemeine Stimmrecht einzuführen gesucht, indem sie bestimmte, daß an den Wahlen der Abgeordneten zum Volkshaus jeder unbescholtene Deutsche nach vollendetem 25. Lebensjahr teilzunehmen befugt sein solle. Freilich war diesem Gesetz die praktische Verwirklichung nicht beschieden; es blieb jedoch das immer entschiedener auftretende Verlangen nach Einberufung einer deutschen Gesamtvolksvertretung auf der Basis des allgemeinen und direkten Wahlrechts, und als nach den Erfolgen des Jahrs 1866 der Norddeutsche Bund errichtet ward, ist dem Liberalismus von seiten der Bundesregierungen die Konzession der Aufnahme des allgemeinen Stimmrechts in die norddeutsche Bundesverfassung vom 1. Juli 1867 gemacht worden.

Auch die deutsche Reichsverfassung vom 16. April 1871 (Art. 20) erklärt, daß der Reichstag aus allgemeinen und direkten Wahlen hervorzugehen habe, und das zum Reichsgesetz erhobene norddeutsche Wahlgesetz vom 31. Mai 1869 enthält im § 1 die dem Frankfurter Wahlgesetz analoge Bestimmung, daß jeder (Nord-) Deutsche nach zurückgelegtem 25. Lebensjahr in dem Bundesstaat, in welchem er seinen Wohnsitz habe, Wähler für den Reichstag sei. Eine Ausnahme (Wahlgesetz, § 3) findet nur statt für diejenigen, über deren Vermögen Konkurs- oder Fallitzustand erklärt worden ist, für die unter Vormundschaft oder Kuratel stehenden Personen, für solche, die eine Armenunterstützung beziehen oder im letzten der Wahl vorhergegangenen Jahr bezogen haben, und endlich auch für diejenigen, welchen infolge rechtskräftigen Erkenntnisses der Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte entzogen ist. Es sind dies sämtlich Ausnahmen, welche bereits in dem oben angezogenen Gesetz der Frankfurter Nationalversammlung aufgestellt worden waren. Dagegen ist eine Abweichung von dem letztern insofern bemerkenswert, als nach dem gegenwärtigen Wahlgesetz (§ 2) für Personen des Soldatenstandes, des Heers und der Marine die aktive Wahlberechtigung so lange ruht, als dieselben sich bei den Fahnen befinden, eine Beschränkung, welche das Frankfurter Wahlgesetz nicht enthielt, indem es vielmehr (§ 11) die Wahl von Soldaten und Militärpersonen ausdrücklich statuierte. Endlich ist auch noch darauf hinzuweisen, daß als Gegengewicht für das allgemeine Stimmrecht die Diätenlosigkeit der Reichstagsabgeordneten von seiten der Bundesregierungen festgehalten wird.

Was den innern Wert des Systems des allgemeinen Stimmrechts anlangt, so wird darüber unter den Politikern und Publizisten gestritten. Während z. B. Lamartine das allgemeine Stimmrecht als einen Adelsbrief bezeichnete, welchen die französische Nation 1848 unter den Trümmern des Throns gefunden, sprechen sich andre, selbst freisinnige Männer gegen das allgemeine Stimmrecht aus, weil es der rohen und unerfahrenen, aber zahlreichern Menge die Macht über die höhern Klassen der Gesellschaft verleihe, die Interessen der Bildung, der Kultur und des Vermögens bedrohe und durch die Quantität der bessern Qualität der Wähler Eintrag thue. Die Erfahrung hat jedoch diese Befürchtungen nicht bestätigt. Es ist Thatsache, daß die Masse sich dem Einfluß der Intelligenz in der Presse wie in der Wahlversammlung auf die Dauer nicht entzieht, und man wird mit gutem Gewissen behaupten können, wie es bereits tief in das Rechtsbewußtsein des Volks eingedrungen ist, daß einem jeden Staatsbürger als solchem das Recht zustehen müsse, zur Mitwirkung bei der Gesetzgebung und bei der Kontrolle der Verwaltung des Staats seine Stimme mit abzugeben, und daß nur durch das Medium des allgemeinen Stimmrechts dieses Mitwirkungsrecht zur vollen Geltung gelangen könne.