Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Anthropologie

630

Anthropologie.

Meers, Reste von Mahlzeiten der Strandbewohner, zwischen denen sich Säugetier-, Vögel- und Fischknochen finden. Die meisten sind in Dänemark an der Ostseeküste bekannt. Rohe Steinwaffen, Hirschhorngeräte, plumpe Topfscherben gestatten in Verbindung mit andern Funden den Schluß, daß jene Menschen sich von Jagd und Fischfang nährten und bereits den Hund als Haustier kannten (Steenstrup). Von großer Bedeutung sind die 1853 und 1854 von F. Keller im Züricher See entdeckten Pfahlbauten (s. d.) oder Seesiedelungen. Dieselben sind sehr reich an prähistorischen Funden, aus denen sich ein ziemlich vollständiges Bild der Lebensweise ihrer Bewohner ergibt. Immerhin bewegen wir uns aber hier wenigstens zum Teil auf bereits historischem Boden, wenn auch vielen Seedörfern ein sehr viel höheres Alter zukommt. Die Tier- und Pflanzenreste beweisen, daß die damalige Fauna und Flora der unsern ziemlich gleich war. Die "Pfahlbauern" besaßen bereits eine Anzahl von Haustieren: den Hund, das Rind, das Schaf, die Ziege, das Schwein; sie trieben Ackerbau, Jagd und Fischfang, kleideten sich in Felle und grobe Gewebe, verstanden sich auf die Töpferkunst, die Korbflechterei und das Seilerhandwerk. Über die somatischen Charaktere derselben ist nichts Sicheres festgestellt; sicher finden sich vielfach dolichokephale Schädelformen.

Auch die mannigfachen Gräberfunde sind von großer Bedeutung für die historische A. Dieselbe hat namentlich nächst den menschlichen Überresten ihr Augenmerk auf die verschiedenen den Toten beigegebenen Geräte (Waffen, Schmucksachen, Gefäße, Münzen etc.) zu richten. Je nach dem Material, aus dem erstere gefertigt, unterscheiden namentlich nordische Anthropologen ein Stein-, Bronze- und Eisenzeitalter, dessen Kulturträger jedesmal ein andres Volk gewesen sein soll, während von andrer, namentlich deutscher, Seite eine derartige strenge Sonderung der Epochen und Rassen zurückgewiesen wird. Die Bestattungsarten wechselten in den verschiedenen Zeiten: im neolithischen Zeitalter, d. h. dem der polierten Steinwaffen, war die Beerdigung allgemein verbreitet; während der Bronzezeit herrschte Leichenverbrennung. Jene geschah teils und ursprünglich in Höhlen, teils in künstlichen Grabkammern, die aus mächtigen rohen Steinplatten errichtet wurden (sogen. megalithische Bauten: Dolmen, Cromlechs, Menhirs, Ganggräber, Hünengräber, Chulpas in Amerika). Die große Verbreitung der Dolmen (vom bretonischen daul, Tisch, und men, Stein, nach v. Bonstetten) in Europa, Indien und Nordafrika führte zur Hypothese eines vorarischen Urvolks, das dieselben auf seinen Wander- und Eroberungszügen erbaut haben sollte, während de Mortillet, Westropp und Bastian die ethnologische Einheit der Dolmenerbauer mit guten Gründen anzweifeln.

In der Neuen Welt spielen die sogen. Mounds (Hügel) und deren Erbauer eine entsprechende Rolle. Es sind riesige, künstlich errichtete Hügel; ihr Inhalt besteht teils aus rohen, teils aus prächtig polierten Stein- sowie geschmiedeten Kupferwaffen (näheres s. Amerikanische Altertümer). Mit den Hügel- und Reihengräbern in Europa endlich gelangen wir in eine bereits historische Epoche. Letztere sind reihenweise in den Boden gesenkte Grabstätten ohne Hügelbau, die Gerippe liegen darin nach Osten orientiert, bald in freier Erde, bald in Stein- oder Holzbehältern. Waffen, Schmuckgegenstände etc. finden sich als oft reiche Beigaben. Die Mehrzahl dieser Gräber, soweit sie sich in Süddeutschland finden, gehört der Zeit vom 5. bis 8. Jahrh. an, die überwiegende Schädelform ist die dolichokephale. Man schreibt sie den Franken und Alemannen, also Germanen, zu. Andre Gräber mit ebenfalls dolichokephalen Schädelfunden, die in den letzten Jahren in Nordostdeutschland, Polen etc. aufgedeckt wurden, gelten indes als slawolettischen Ursprunges, wofür auch die Beigabe des zweifellos slawischen Schläfenringes spricht (Gräberfund von Slabocěwo bei Mogilno).

Das Fazit der historischen A., in vorsichtiger Weise gezogen, ist vorerst kein für die darwinistische Theorie verwendbares: wir sind bisher noch auf keine sichern Spuren einer prähistorischen Rasse gestoßen, die den Übergang zu den zweifellos nächsten Verwandten des Menschen, den anthropoiden Affen (Gorilla, Schimpanse, Orang), darstellt. "Der Proanthropos (oder Affenmensch) ist noch immer erst zu suchen." (Kollmann.) Anderseits finden sich vielfach am menschlichen Skelett gewisse Abweichungen von der Norm, die man als Kennzeichen einer niedern, bez. affenartigen Bildung aufzufassen berechtigt ist (z. B. die Stenokrotaphie). Auch in dieser Beziehung ist eine erfreuliche Ernüchterung eingetreten, namentlich auch in der Frage der sogen. Mikrokephalen-, d. h. Idioten- oder Kretingehirne. Während K. Vogt darin einen Atavismus, einen wieder zum Durchbruch kommenden affenartigen Typus, sah, neigt die Mehrzahl der Anthropologen jetzt zur Auffassung hin, daß man es mit einer rein krankhaften Hemmungsbildung zu thun habe. Eine eigenartige Gestalt des Schienbeins, in einer auffallenden Abplattung desselben bestehend (sogen. Platyknemie), die sich sowohl bei den alten Höhlenbewohnern als bei manchen jetzt lebenden wilden Völkern, z. B. der Südsee, findet, ist, da sie bei keinem Affen vorkommt, keine pithekoide (affenartige) Bildung, sondern steht wahrscheinlich in Zusammenhang mit der Muskelentwickelung und -Wirkung.

Litteratur. 1) Somatische A.: Blumenbach, De generis humani varietate nativa (Götting. 1795); Derselbe, Decades craniorum (das. 1790-1828). Außerdem die Schriften von Sömmerring, P. Camper, K. G. Carus; Virchow, Entwickelung des Schädelgrundes (Berl. 1857); Derselbe, Gesammelte Abhandlungen (2. Aufl., das. 1862); Aeby, Neue Methode zur Bestimmung der Schädelform von Menschen u. Säugetieren (Braunschw. 1862); Welcker, Untersuchungen über Wachstum und Bau des menschlichen Schädels (Leipz. 1862); v. Baer und Wagner, Bericht über die Zusammenkunft einiger Anthropologen im September 1861 in Göttingen; Lucae, Zur Morphologie der Rassenschädel (Frankf. 1861); Retzius (in Müllers "Archiv" 1845, 1848 und 1858); Broca, Instructions craniologiques etc. (Par. 1875); Roberts, A manual of anthropometry etc. (Lond. 1878); Topinard, L'Anthropologie (4. Aufl., Par. 1884). - 2) Psychische A.: Kant, A. in pragmatischer Hinsicht ("Sämtliche Werke", hrsg. von Hartenstein, Bd. 10); Fries, Handbuch der psychischen A. (2. Aufl., Jena 1837-39, 2 Bde.); I. H. ^[Immanuel Hermann] Fichte, A., die Lehre von der menschlichen Seele (3. Aufl., Leipz. 1876). - 3) Historische A. und Allgemeines: Prichard, Naturgeschichte des Menschengeschlechts (deutsch von Wagner, Leipz. 1840-48); Waitz, A. der Naturvölker (das. 1859-64, 4 Bde.; Bd. 5 u. 6 von Gerland, 1870-71; 2. Aufl. des 1. Bandes, von Demselben, 1876); Burdach, A. für das gebildete Publikum (Stuttg. 1846); Huxley, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur (deutsch, Braunschw. 1863); Vogt, Vorlesungen über den Menschen (Gieß. 1863, 2 Bde.); Bastian, Der Mensch