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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Arbeit

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Arbeit (volkswirtschaftlich).

und Kontrolle hinreichend gestatten und Mehrleistungen wirklich erzwingen lassen. Qualifizierte Arbeiten sind nur in bescheidenem Grade durch Zwang zu erzielen, sie sind echte Kinder der Freiheit. Bei dem freien Arbeitsvertrag wird der Trieb zur A. ein verschiedener sein je nach der Art des Lohnsystems. Je mehr sich der Lohn nach der Leistung richtet, um so größer der Fleiß und der Trieb, sich Fertigkeiten anzueignen, die besten Arbeitsmethoden und Instrumente in Anwendung zu bringen. Durch Stücklohn, wo er angängig ist, werden deshalb größere Erfolge erzielt als durch Zeitlohn, welcher innerhalb gewisser Grenzen feststeht und durch die Einzelleistung nicht bedingt wird. Und wo das Interesse durch Beteiligung am Gewinn des Geschäfts eng an das letztere gefesselt wird, da wird nicht allein der Reiz groß sein, durch positive Leistungen, sondern auch negativ durch Ersparungen das Geschäftsresultat zu erhöhen.

Nun ist der Trieb zur A. für sich allein nicht genügend. Demselben muß auch entsprechen ein hinreichender Fonds von Arbeitskraft und zwar nicht allein der rohen Körperkraft, der mechanischen Geschicklichkeit, Beweglichkeit und Fertigkeit, sondern auch der intellektuellen und moralischen Eigenschaften. Umsicht, Raschheit der Auffassung, Kombinationsgabe, Fähigkeit, eine richtige Arbeitsdisposition zu treffen, Vielseitigkeit, Akkommodationsvermögen, ein hohes Maß positiven Wissens sind für schwierigere, qualifizierte Arbeiten unentbehrlich, aber auch für die einfachern von großem Vorteil. Nicht minder wichtig sind die sittlichen Eigenschaften. Mäßigkeit erhält die Arbeitskraft, unregelmäßiges Schwanken von einem Extrem zum andern, ausschweifendes Leben zerrütten dieselbe, Ausdauer, Eifer und Fleiß erhöhen ihre Wirkung. Viele Arbeitsarten (Arzt, Advokat) erheischen ein hohes Maß von Vertrauenswürdigkeit; aber auch in allen andern Fällen spielen Treue, Redlichkeit, Zuverlässigkeit, Gewissenhaftigkeit eine sehr große Rolle. Unser heutiges ganzes soziales Leben, Tauschgetriebe und Kreditsystem stellen hohe Anforderungen an diese Eigenschaften. Und wo denselben nicht genügt oder eine Gefahr durch Unredlichkeit oder Mangel echt humaner Gesinnung befürchtet wird, da treten wirtschaftliche Störungen mit weittragenden materiellen und immateriellen Schädigungen ein, oder es werden kolossale Aufwendungen für Kontrolle, Aufsicht und Abwehr nötig (Militär, Polizei, Rechtspflege, Schutz und Kontrolle im Finanzwesen wie in allen privaten Produktionszweigen). Die Arbeitskraft des einzelnen Menschen ist bedingt durch den Stand der Gesamtkultur, dann aber auch durch alle konkreten Einflüsse, unter denen er sich entwickelt hat, und zwar spielen hier nicht allein die natürlichen Anlagen, welche der Mensch von Geburt aus mitbringt, sondern auch die während seines Lebens auf ihn statthabenden Einwirkungen in Schule und Haus wie überhaupt alle äußern Einflüsse, materielle und immaterielle, eine wichtige Rolle. Klima, religiöse Anschauungen, Rassenangehörigkeit, welche den einen oder den andern Grundzug im Charakter bald vorwiegen, bald mehr zurücktreten läßt, wie Energie, Zähigkeit, Pünktlichkeit, Geschmack, Sauberkeit etc., dann die Art der Beschäftigung, der Ernährung, Wohnung wie die ganze Lebensweise sind für Erhaltung und Steigerung der Arbeitskraft bald mehr, bald weniger günstig.

Die gesamte Leistungsfähigkeit eines Volks ist außerdem abhängig von der Altersklassenverteilung, Mortalität, Morbilität und Verteilung der Geschlechter. Im Leben des Menschen lassen sich drei Perioden unterscheiden: a) die Periode der Bildung und Erziehung, b) die der Invalidität, c) die der vollen Arbeitskraft. Was in der letztern erworben wird, muß zureichen, um den Unterhaltsbedarf während des ganzen Lebens zu decken, oder mit andere Worten, es müssen jeweilig die Arbeitsfähigen so viel erarbeiten, daß außer ihnen auch der andre Teil der Bevölkerung erhalten werden kann. Die erwerbslose Periode der Erziehung und Ausbildung dauert bei manchen Ständen bis über das 20. Jahr hinaus, bei andern bis zum 12. und 15.; die der Invalidität beginnt mit dem 60. und 70. Lebensjahr. Im Alter zwischen 20 und 60 Jahren stehen von 100 Personen in England und Wales 46,9, in Deutschland 48, in Österreich 50,2 und in Franko reich 62,8, und im Alter zwischen 15 und 70 je 61,1, 62,6, 64,3 und 68,6 Proz. Frankreich ist also in dieser Beziehung am günstigsten gestellt, was eine Folge verhältnismäßig kleiner Geburts- und Sterblichkeitsziffer ist. Für Deutschland dürfen wir 50-60, rund 55 Proz. der Bevölkerung als im arbeitskräftigen Alter stehend betrachten. Hiervon geht ab die Zahl der durch Krankheit zur A. Unfähigen. Die Morbilität ist ein Produkt mannigfaltiger und zahlreicher Faktoren, wie Alter, Geschlecht, Beruf, Art und Dauer der A., Wohnort, Lebenslage, Lebensweise etc. Nach den Erhebungen verschiedener englischer Hilfskassen macht ein Mensch vom 15. bis zum 70. Lebensjahr im Durchschnitt 790 Krankheitstage durch. Hiernach wäre anzunehmen, daß etwa 4, nach andern gar bis zu 6 Proz. der entsprechenden Bevölkerung ständig krank sind, also von 55 Arbeitsfähigen etwa 2-3 Personen. Hierzu kommen noch Geisteskranke und mit organischen Fehlern Behaftete, welche sich nicht selbst zu erhalten vermögen. An erstern, deren Statistik freilich keine sehr scharfe ist, soll im Durchschnitt für ganz Europa eine Person auf 478 arbeitsfähige Erwachsene entfallen, also auf 55 etwas über 0,1. An Taubstummen, die in den jüngern Altersklassen verhältnismäßig am zahlreichsten sind, an Blinden, deren Relativzahl bei ältern Leuten größer ist, und an sonstigen ganz oder teilweise Arbeitsunfähigen kann man nach verschiedenen Angaben in Deutschland 0,5-0,9 auf 55 Erwachsene rechnen. Hierzu kommt noch die stets unter den Waffen stehende Armee mit 1 Proz. der ganzen Bevölkerung. So blieben denn rund 50 Personen übrig, welche sich und die übrigen 50 zu erhalten haben. Thatsächlich ist aber die Zahl der wirklichen und erwerbenden Arbeiter nicht so groß, insbesondere aber ist weit kleiner die Zahl derjenigen Personen, welche mit solchen Arbeiten beschäftigt sind, deren Ergebnis zum Unterhalt der Gesamtheit und zur direkten Steigerung ihrer Wohlfahrt dient. So würde als sich nicht mit positivem Erwerb befassend ein großer Teil des weiblichen Geschlechts in Abzug kommen. Die Zahl der Frauen überwiegt fast in ganz Europa die der Männer, trotzdem daß bei der Geburt im Durchschnitt 106 Knaben auf 100 Mädchen kommen. Berücksichtigen wir, daß viele Männer unverehelicht bleiben, daß die Ehemänner durchschnittlich älter sind als die Frauen, daß die Sterblichkeit des weiblichen Geschlechts gerade in der Zeit der Geburten sehr groß ist, so folgt, daß viele Frauen ihren Beruf in der Ehe nicht finden können und für einen großen Teil dieser "Überzähligen" die Eröffnung von Erwerbsquellen eine Notwendigkeit und auch ein sittlicher Segen ist. Nun sind auch viele Mädchen vor der Verheiratung und viele Frauen