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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Berufung

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Berufung (in Strafsachen).

von über 1500 Mk. gegeben. Hierdurch kann jedoch nur eine nochmalige Prüfung der Rechtsfrage herbeigeführt werden.

Berufung in Strafsachen.

Die Bedenken, welche gegen die B. überhaupt bestehen, liegen im Strafprozeß noch offener zu Tage als im Zivilstreitverfahren. Denn der gegenwärtige Strafprozeß wird von dem Grundsatz der Mündlichkeit des Verfahrens und der Unmittelbarkeit der richterlichen Entscheidung auf Grund der mündlichen Verhandlung beherrscht. Darum wollte der Entwurf der deutschen Strafprozeßordnung die B. gänzlich beseitigen und gegen Urteile in Strafsachen nur das Rechtsmittel der Revision (s. d.) statuieren, also nur dasjenige Rechtsmittel, welches sich mit der Frage beschäftigt, ob die thatsächlichen Feststellungen rechtlich richtig beurteilt sind, während es sich bei der B. wesentlich auch um die Frage handelt, ob die thatsächlichen Feststellungen selbst richtig sind. Es erschien als widersinnig, eine nochmalige Prüfung und Verhandlung in zweiter Instanz auf Grund des Aktenmaterials zuzulassen., nachdem der erste Richter auf Grund mündlicher Verhandlung sein Urteil gesprochen. Selbst eine vollständige oder teilweise Wiederholung der mündlichen Beweisaufnahme kann dem zweitinstanzlichen Richter nicht ebendieselbe Erkenntnisquelle verschaffen, aus welcher der erste Richter schöpfte. Denn das Gedächtnis der Zeugen kann z. B. nicht ausreichend sein, ein Zwischenfall kann der Anschauungsweise der letztern eine andre Richtung gegeben haben, und dieses oder jenes Beweismittel ist vielleicht gar nicht mehr oder doch nicht mehr in derselben Art und Weise vorhanden wie bei der Verhandlung in erster Instanz. Die deutsche Strafprozeßordnung hat diesen Gründen auch insoweit Rechnung getragen, als sie Erkenntnissen der Strafkammern der Landgerichte und Urteilen der Schwurgerichte gegenüber das Rechtsmittel der B. ausschließt. Dafür hat sie dem Beschuldigten im landgerichtlichen Verfahren besondere Garantien für eine gründliche und gewissenhafte Prüfung gegeben, indem sie namentlich eine stärkere Besetzung des erstinstanzlichen Gerichts (mit fünf Richtern) anordnet, und indem sie vorschreibt, daß zur Verurteilung des Beschuldigten eine Mehrheit von vier Stimmen erforderlich sei. Dazu ist die rechtliche Stellung des Angeklagten in mehrfacher Hinsicht verbessert, auch die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Strafverfahrens in erweitertem Umfang gestattet worden. Dagegen erschien es bedenklich, die B. auch gegenüber den Urteilen der Schöffengerichte auszuschließen und ebenso denjenigen Urteilen gegenüber, welche der Amtsrichter mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft ohne Zuziehung von Schöffen bei bloßen Übertretungen erlassen kann, wenn der vorgeführte Beschuldigte die That zugesteht (Strafprozeßordnung, § 211, Abs. 2). Die summarische Art und Weise der Verhandlung und die sonstigen Eigentümlichkeiten des Verfahrens schienen hier gegen die Ausschließung der B. zu sprechen. Die B. geht vom Schöffengericht, resp. Amtsrichter an die Strafkammer des zuständigen Landgerichts. Sie ist bei dem erstinstanzlichen Gericht schriftlich oder zu Protokoll des Gerichtsschreibers innerhalb einer Woche von der Verkündigung oder, wenn diese bei Abwesenheit des Angeklagten erfolgte, von der Zustellung des Urteils an denselben an einzulegen. Die B. kann auch von der Staatsanwaltschaft und von dem Privatkläger eingewendet werden. Eine Ausführung der B. binnen einer weitern achttägigen Frist ist gestattet. Ist die B. verspätet, so wird sie vom Gericht erster Instanz verworfen. Doch kann der Beschwerdeführer in diesem Fall binnen einer Woche auf die Entscheidung des Berufungsgerichts hierüber antragen. Weist das Berufungsgericht die B. nicht zurück, so ist über die B. durch Urteil zu entscheiden. Die Entscheidung erfolgt nach vorgängiger zweitinstanzlicher Hauptverhandlung. Die in erster Instanz vernommenen Zeugen und Sachverständigen sind zu dieser Verhandlung nur dann nicht mit vorzuladen, wenn deren wiederholte Vernehmung zur Aufklärung des Sachverhalts nicht erforderlich erscheint. Neue Beweismittel sind zulässig. Erscheint der Angeklagte zur Hauptverhandlung nicht, und ist sein Ausbleiben nicht genügend entschuldigt, so ist, insofern der Angeklagte die B. eingelegt hatte, dieselbe sofort zu verwerfen. Insoweit die Staatsanwaltschaft die B. eingewendet hatte, ist über dieselbe zu verhandeln oder die Vorführung oder Verhaftung des Angeklagten anzuordnen. In der Appellationsverhandlung erfolgt zunächst der Vortrag des Berichterstatters (Referenten) über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens, sodann die Vernehmung des Angeklagten und die Beweisaufnahme. Hieran schließen sich die Ausführungen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten an, welch letzterm das letzte Wort gebührt. Erachtet das Gericht die B. für begründet, so wird das erste Urteil aufgehoben, und es wird in der Sache selbst erkannt. Leidet das Urteil an einem Mangel, welcher die Revision wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren begründen würde, so kann das Berufungsgericht die Sache an die erste Instanz zur anderweiten Entscheidung zurückverweisen. Erscheint das erste Gericht als unzuständig, so erfolgt Verweisung an den zuständigen Richter. War das erstinstanzliche Urteil nur von dem Angeklagten oder zu gunsten desselben von der Staatsanwaltschaft angefochten, so darf dasselbe nicht zum Nachteil des Angeklagten abgeändert werden (Unzulässigkeit der Reformatio in pejus).

Neuerdings haben sich gewichtige Stimmen für die Wiedereinführung der B. auch in denjenigen Strafsachen ausgesprochen, welche in den landgerichtlichen Kompetenzkreis gehören. Namentlich im deutschen Anwaltstand ist die Ansicht vielfach vertreten, und auch auf dem deutschen Anwaltstag und auf dem deutschen Juristentag ist es zum Ausdruck gekommen, daß es ein Mißstand sei, wenn in schweren Fällen, wo es sich um langwierige und entehrende Freiheitsstrafen handeln könne, kein zur Geltendmachung neuer Thatsachen und Beweismittel und zur Aufklärung und Berichtigung thatsächlicher Irrtümer geeignetes ordentliches Rechtsmittel gegeben sei. Unter den berufsmäßigen Richtern, so wird weiter angeführt, treten oft einseitige Anschauungen hervor; der Angeklagte entnehme zudem nicht selten erst aus den Verhandlungen erster Instanz mit Sicherheit, worauf es eigentlich ankomme; endlich könne auch eine allzu strenge Bemessung des Strafmaßes nur durch B. aufgehoben werden. Auch im Reichstag (Antrag Munkel-Lenzmann) ist diese wichtige Frage verhandelt worden, ohne daß es jedoch zu einer entscheidenden Abstimmung darüber gekommen wäre. Die österreichische Strafprozeßordnung vom 23. Mai 1873 statuiert die B. gegen die Endurteile der Gerichtshöfe erster Instanz und der Schwurgerichte, soweit es sich dabei um den Ausspruch der Strafe und um etwanige Privatansprüche handelt. Vgl. Österreichische Strafprozeßordnung, § 283, 294 ff., 345, 463 ff.; Deutsche Strafprozeßordnung, § 354-^[BINDESTRICH!]