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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Besitz

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Besitz.

Weise denken: als eine rechtliche und als eine thatsächliche. Jene ist das Eigentum, diese ist der B. Wie das Eigentum das Recht zu vollständigster und ausschließlicher Beherrschung einer Sache ist, so ist der B. die bloße Thatsache, durch welches jenes Recht ausgeübt wird, oder die thatsächliche Ausübung des Eigentums. Diese beiden Beherrschungsarten können miteinander verbunden sein, aber auch getrennt vorkommen, so daß B. ohne Eigentum oder Eigentum ohne B. stattfinden kann. Der Eigentümer eines Hauses z. B., welcher dieses vermietet und dem Mieter überlassen hat, ist nicht im B. desselben. Der Mieter ist in dessen B., ohne Eigentümer zu sein. Obschon der B. an sich eine bloße Thatsache, so ist er doch durch gesetzliche Bestimmung zu einem Rechtsverhältnis erhoben worden, indem ihm unmittelbar rechtliche Wirkungen beigelegt oder mittelbar solche von ihm abhängig gemacht werden. Hinsichtlich seiner rechtlichen Wirkungen läßt sich der B. in den rein faktischen (Detention, detentio) und den rechtlich besonders wirksamen juristischen B. (Eigentumsbesitz, possessio) einteilen. Der letztere liegt vor, wenn der Inhaber der Sache nicht bloß (wie der Detentor) die körperliche Herrschaft und faktische Gewalt über dieselbe (corpus) übt, sondern auch zugleich die Absicht hat, dieselbe als sein Eigentum zu besitzen (animus, animus domini, animus rem sibi habendi). Dieser juristische B. wird wiederum eingeteilt in Interdiktenbesitz und Usukapionsbesitz. Jeder juristische B. nämlich gibt nach römischem Rechte das Recht zu den Interdikten, d. h. den Anspruch auf den Rechtsschutz der possessorischen Interdikte. Dies sind Besitzklagen, deren Zweck teils die Aufrechthaltung eines bestehenden Besitzes, teils die Wiederherstellung eines verlornen ist. Es genügt hierzu lediglich die Thatsache des Besitzes; nur den Einfluß hat die Art des Erwerbes des Besitzes (causa possessionis), daß, wenn zwei Besitzer, ein gegenwärtiger und ein ehemaliger, einander gegenüberstehen, deren einer von dem andern den B. durch Gewalt oder heimlich oder bittweise (vi, clam, precario) erlangt hat, jener nicht gegen diesen in dem B. geschützt wird. Das römische Recht gab bei Immobilien die Besitzklage "Uti possidetis" und bei Mobilien die Klage "Utrubi". Das kanonische und gemeine deutsche Recht schützte den B., auch die rein thatsächliche Innehabung, durch die sogen. Spolienklage (remedium spolii) und führte ein besonders summarisches Verfahren zum Schutz im jüngsten B. ein (possessorium summarium oder summarissimum). Im Gegensatz zum Besitzprozeß (possessorium) wurde der Prozeß über das Eigentum als Petitorium bezeichnet. Nach der deutschen Zivilprozeßordnung (§ 232, Abs. 2) können die Besitzklage und die Klage, durch welche das Recht selbst geltend gemacht wird, nicht in einer Klage verbunden werden. Der Usukapionsbesitz setzt zwar ebenfalls das Dasein eines juristischen Besitzes voraus, aber dieser allein ist nicht hinreichend. Soll nämlich der B. durch seine längere Fortsetzung, durch Ersitzung oder Usukapion zur Erwerbung des Eigentums führen, dann muß er im guten Glauben (bona fide) angefangen haben und sich auf einen gerechten Grund (justa causa, justus titulus) stützen; auch muß die Sache eine solche sein, an welcher überhaupt eine Ersitzung möglich ist. Zu beachten ist hierbei, daß nach modernem Grundbuchrecht das Eigentum an Liegenschaften nur durch den Eintrag in das Grundbuch erworben wird. Die erwerbende Verjährung oder Ersitzung ist also bei Immobilien nach diesem System ausgeschlossen. Hinsichtlich des Grundes (Besitztitel, causa, titulus possessionis), aus welchem jemand eine Sache besitzt oder auch nur detiniert, ist der B. entweder ein rechtmäßiger (possessio justa), d. h. ein solcher, der auf gesetzlich erlaubte Art angefangen hat, oder ein unrechtmäßiger (possessio injusta), welcher durch Gewalt (vi) oder heimlich (clam) oder durch Überlassung auf Bitte (precario) erworben wurde. Hinsichtlich dieser Causa possessionis ist noch zu bemerken, daß dies eine Thatsache ist, die nicht bloß von dem Willen des Besitzers abhängt, oder mit andern Worten: man kann sich nicht willkürlich aus einem bloßen Detentor zum juristischen Besitzer, aus einem malae fidei possessor zu einem honae fidei possessor machen.

Jeder B. ist seiner Natur nach ausschließend, d. h. es können nicht mehrere zugleich dieselbe ganze Sache besitzen. Doch ist ein Mitbesitz (compossessio) mehrerer an derselben Sache in der Weise möglich, daß jeder die Sache zu einem gedachten, ideellen oder intellektuellen Teil, wie zur Hälfte, zu einem Drittteil etc., besitzt, da, wenn auch die körperliche Gewalt sich nicht auf einen solchen Teil beschränken läßt, doch der Besitzwille auf einen solchen, sich äußerlich an der Sache nicht darstellenden, sondern nur gedachten Teil gerichtet sein kann. Eigentlich können nur körperliche Sachen Gegenstand des Besitzes sein, weil sich nur bei diesen eine Detention denken läßt. Da aber der juristische B. einer Sache im Grunde nichts weiter ist als faktische Ausübung des Eigentums an derselben, so läßt sich etwas dem B. Ähnliches auch bei andern Rechten an Sachen denken; man nennt dies den Quasibesitz eines Rechts (juris quasi possessio) und versteht darunter die faktische Ausübung eines dinglichen oder sonstigen dauernde Übung zulassenden Rechts. Nach unserm Recht gehören dahin: die Ausübung der Servituten, der kirchlichen und gutsherrlichen Jurisdiktion und der Reallasten, wie Grundzinsen, Zehnten, Fronen, Bannrechte. Erworben wird der Eigentumsbesitz dadurch, daß man sich in ein solches Verhältnis zur Sache setzt, daß das Bewußtsein der physischen Herrschaft über die Sache in dem Betreffenden begründet ist (corpus, Apprehension der Sache), und daß man zugleich den bestimmten Willen hat, die Sache als eigne zu behandeln (animus); und zwar ist zu der Apprehension nicht gerade unmittelbare körperliche Berührung der Sache erforderlich, es genügt vielmehr die Möglichkeit vollständiger Einwirkung auf die Sache. Geschieht die Apprehension unter Mitwirkung des bisherigen Besitzers, so nennt man sie Tradition, geschieht sie aber durch eine einseitige Thätigkeit des Erwerbers, so heißt sie Okkupation. Bei Grundstücken geschieht die Besitzergreifung schon dadurch, daß man das Grundstück betritt oder von den Tradenten sich von fern zeigen läßt; bei Mobilien gilt die Apprehension schon für vollendet, wenn man sich dieselben in seine Behausung hat bringen oder von einem andern hat übergeben lassen. Das deutsche Recht hatte für diesen Akt bei Liegenschaften bestimmte symbolische Formen, wie Übergeben der Schlüssel eines Hauses, einer Scholle des Grundstücks etc., eingeführt, an deren Stelle jedoch die gerichtliche Auflassung getreten ist. Sofern außer der Apprehension auch der Wille, die Sache als eigne zu behandeln, erforderlich ist, sind von der Möglichlichkeit ^[richtig: Möglichkeit] eines Besitzerwerbes alle die Personen ausgeschlossen, welche eines Willens unfähig sind; dahin gehören alle juristischen Personen sowie Kinder und Geisteskranke. Als Auskunftsmittel gegen diese Un-^[folgende Seite]