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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Bevölkerung

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Bevölkerung (Malthussche Theorie etc.).

größerm Einfluß als für Länder, welche Auswanderer abgeben, ist die räumliche Bewegung für die Länder junger Kultur, welche den Auswandererstrom, meist jugendliche, frische Kräfte, empfangen und mit diesem nicht allein direkt einen starken Bevölkerungszuwachs, sondern auch die Anwartschaft auf starken Nachwuchs erhalten (vgl. Auswanderung und Kolonien).

Das wirkliche Wachstum der B. größerer Länder weist innerhalb längerer Perioden eine gewisse Stetigkeit auf. Diese Gesetzmäßigkeit ist darin begründet, daß die wichtigsten Ursachen der natürlichen und räumlichen Bewegung sich nicht in kurzer Frist ändern. Fast in allen Kulturstaaten hat sich die B. im Lauf dieses und zum Teil auch des 18. Jahrh. vermehrt. So war durchschnittlich jährlich die Zunahme in

Pro Mille

Sachsen 1816-80: 13,3

England und Wales 1831-81: 12,6

Preußen (Alt-) 1816-80: 12,1

Norwegen 1835-75: 10,5

Dänemark 1831-80: 10,1

Deutsches Reich 1816-80: 9,4

Schweden 1830-79: 9,4

Schottland 1831-81: 9,1

Niederlande 1839-79: 8,7

Österreich 1850-80: 7,7

Großbritannien und Irland 1851-81: 7,3

Belgien 1846-76: 6,9

Baden 1816-80: 6,9

Italien 1833-78: 6,8

Österr.-Ungarn 1850-80: 6,7

Schweiz 1837-79: 5,9

Bayern 1816-80: 5,9

Ungarn 1850-80: 5,6

Württemberg 1816-80: 5,2

Frankreich. 1821-76: 3,9

In Rußland ist die Ziffer vermutlich höher als in den meisten dieser Länder. Die Schnelligkeit der Zunahme war allerdings in den einzelnen Jahren und Perioden nicht immer gleichgroß. So war die Zunahme in Preußen 1830-61: 11,6 pro Mille und 1861-77: 9,6 pro Mille, in Frankreich 1800-1860: 4,8 pro Mille und 1860-76: 0,7 pro Mille. Ein sehr starkes Wachstum weisen die Vereinigten Staaten auf. Die B. derselben war 1790 (auf 40,000 QM.) 3,9 Mill., 1880 (auf 170,000 QM.) 50,4 Mill.; sie hatte sich also um 28,8 pro Mille vermehrt, was im wesentlichen der Einwanderung zu verdanken ist. Die gesamte europäische B. ist 1820-80 um 8 pro Mille, diejenige Schwedens 1751-1879 um 7,3 pro Mille gewachsen. Eine fortwährend anwachsende B. muß in bestimmter Zeit sich verdoppeln. Diese Zeit, die Verdoppelungsperiode (für 1, 2, 4 Proz. je 69,6, 35, 17,6 Jahre), läßt sich jedoch für die Zukunft auf Grund eines seither wirklich stattgehabten Wachstums nicht berechnen, da aus der seitherigen Bewegung der B. nicht auf diejenige eines längern Zeitraums der Zukunft geschlossen werden kann, wenn auch anzunehmen ist, daß eine Bewegungstendenz unter Schwankungen eine Reihe von Jahren anhalten dürfte, sofern nur keine außerordentlichen störenden Ursachen dazwischentreten.

Eine Abnahme der B. ist in den letzten Jahrzehnten nur in wenigen Ländern eingetreten. Sie verminderte sich im Durchschnitt jährlich in Irland 1831-81 um 9,3 pro Mille (1841-51 um 22,3 pro Mille), dann 1871-75 in Elsaß-Lothringen um 29 pro Mille, Mecklenburg-Strelitz um 34 pro Mille, in Waldeck um 67 pro Mille. Ursache hiervon war die starke Auswanderung. Bei unzivilisierten Völkerschaften kann diese Erscheinung bis zu vollständiger Vernichtung durch Mangel an Lebenskraft (weniger Geburten, größere Sterblichkeit bei nachteiliger Lebensweise) hervorgerufen werden (Aussterben von Indianerstämmen, Bewohnern einiger Südseeinseln). Insbesondere ist dies der Fall, wenn sich mit denselben kräftigere Völker vermengen (Kolonisation). Bei unentwickeltem Verkehr sowie mangelhaften Kenntnissen und Anstalten für Gesundheitspflege können einzelne widrige Ursachen plötzlich starke Verminderungen hervorrufen und so auch für längere Zeit einen ungünstigen Einfluß ausüben. Epidemien, Kriege, Mißwachs und Teurung rafften früher oft einen großen Teil der B. hinweg. Nach Epidemien (Pest), die im Mittelalter (1347-51 etc.) heftig wüteten, trat zwar eine größere Heirats- und Geburtenfrequenz ein; doch füllte sich die Lücke oft nur langsam, zumal wenn lange dauernde Kriege und Mißwachs noch dazukamen. Letztere wirkten weniger durch direkte Tötungen und Hungertod als dadurch, daß sie durch Mangel an Nahrung und Pflege, Krankheiten etc. Siechtum und Sterblichkeit zunächst in den Reihen des schwächern Teils der B. erhöhten. Wirkten mehrere solcher mächtigen Ursachen zusammen, wie Armut, Krankheit, Entsittlichung, harter politischer Druck, so konnten sie geradezu eine Entvölkerung hervorrufen (Persien, Kleinasien).

Im Mittelalter war Europa nach allen Anzeichen wohlbevölkert. (Später trat jedoch entschieden Rückgang und Verfall ein (Spanien nach der Zeit der Araber, Italien, im Osten die Mongolen- und Türkenwirtschaft). Insbesondere in Deutschland hatte der Dreißigjährige Krieg die B. um 50 Proz. vermindert (1618: 25 Mill. gegen 12 Mill. Einw. 1648), viele Landstriche waren vollständig verheert und menschenleer. Eine günstigere Entwickelung brachte die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Gute Ernten, Fortschritte der Landwirtschaft, Entwickelung von Handel und Industrie, zumal in England bei freier wirtschaftlicher Bewegung, beorderten das Wachstum der B. und die Bildung von industriellen städtischen Zentralpunkten, damit aber auch die Anhäufung von Not und Elend auf kleinem Raum.

Bevölkerungstheorie.

Diese Erscheinungen übten einen mächtigen Einfluß auf die allgemeinen Anschauungen und die Regierungspolitik aus. Die Populationisten des Merkantilsystems (s. d.) wollten durch Förderung der Ehen, Prämiierung des Kinderreichtums, Anreiz zum Einwandern etc. eine Mehrung der gesunkenen Volkszahl veranlassen. Ein Rückschlag machte sich dagegen in dieser Beziehung bemerklich, als Ende des vorigen Jahrhunderts das Wachstum der B., zumal in Städten, die Angst vor Übervölkerung an Stelle der frühern Überschätzung der Volkszahl treten ließ. Jener Zeit verdankt die Bevölkerungstheorie von R. Malthus (s. d.) ihre Entstehung. Nach Malthus ist die Vermehrung der B. von der Menge der zu beschaffenden Unterhaltsmittel abhängig. Letztere lassen sich nun nicht beliebig mehren. Wenn auch noch unbebauter Boden vorhanden ist und Verbesserungen möglich sind, so gibt es doch jeweilig eine vom Stande der Technik und der Kultur abhängige unüberschreitbare Grenze für die Vermehrung. Eine unbedingte Zunahme der B. würde demnach schließlich zu einem Mißverhältnis zwischen B. und Nährmitteln führen. Zur Veranschaulichung seiner Grundgedanken bediente sich Malthus mathematischer Formeln, ohne sie jedoch selbst für genau zu halten. Die Nahrungsmittel können in arithmetischer Progression zunehmen, während die B. die Neigung hat, sich in geometrischer Reihe zu vermehren. Dieselbe nimmt auch unfehlbar zu, sobald ihr mehr Unterhaltsmittel geboten werden können. Dem natürlichen Vermehrungstrieb der B. stehen nun verschiedene Hemmnisse (checks) entgegen, welche teils in menschlichen Handlungen (sittlich zulässige und unsittliche), teils in Wirkungen der Natur bestehen. Dieselben sind prä-^[folgende Seite]