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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Blutegel

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Blutegel.

Die Färbung wechselt so sehr, daß man 64 Varietäten aufgezählt hat, von dienen die häufigsten der deutsche B. (H. medicinalis Sav.), mit sechs rostroten Längsbinden auf dem Rücken, und der ungarische B. (H. officinalis Sav.), mit vier roten oder braunen Längsbinden, sind. Der offizinelle B. war ursprünglich in ganz Europa, dem südwestlichen Asien und Nordafrika einheimisch, ist aber jetzt in vielen Gegenden, besonders Deutschlands, vollkommen ausgerottet. Der kleinere, zahnärmere Dragoneregel (H. interrupta Moq. Tand.), mit sechs Reihen gelber, schwarz getüpfelter Flecke auf dem Rücken, besonders in Algerien, Italien und Spanien, wird in großer Zahl nach Frankreich, England und Südamerika ausgeführt. Der senegalische Egel (H. mesomelas Virey) wird aus Senegambien nach Frankreich gebracht, absorbiert aber nur halb soviel Blut wie der offizinelle B. Der Pferdeegel (Haemopis vorax Moq. Tand.), mit mehr cylindrischem Körper, auf dem Rücken olivenfarben oder bräunlich, mit sechs Reihen kleiner, schwarzer Flecke, dunklerm Bauch und gelber oder bräunlicher Längsbinde am Rand, bewohnt Gräben und Teiche in Mittel- und Südeuropa, besonders auch in Nordafrika und wird an manchen Orten für Menschen und Vieh gefährlich, indem die jungen Tiere beim Trinken verschluckt werden und sich dann für längere Zeit im Rachen, am Kehldeckel und in der Luftröhre festsetzen. Gelingt die Entfernung der Egel nicht, so tritt Abmagerung, selbst Schwindsucht ein. Hirudo ceylanica Moq. Tand., ein 3-20 mm langer Landblutegel, findet sich zur Regenzeit überall in Ceylon, mitunter in ungeheuern Schwärmen, und lebt auf der Erde, im Gebüsch und auf Bäumen. Er bewegt sich mit großer Geschwindigkeit, wirft sich aus dem Gras auf seine Opfer oder läßt sich von den Bäumen herabfallen und zwängt sich geschickt durch die Kleidung. Der Biß ist an sich nicht gefährlich, wird es aber bei großer Zahl und schlechter Behandlung durch die lang dauernde Eiterung. Ähnliche Landblutegel finden sich auf den Sundainseln, den Philippinen, in den Nilgiri, im Himalaja, in Südaustralien und Chile.

Die medizinischen B. leben gern in ruhigen Teichen und Sümpfen mit Lehm- oder Thonuntergrund und Pflanzenwuchs, schwimmen am Tag, namentlich bei warmem Wetter, lebhaft umher, rollen sich dagegen bei nebligem und kaltem Wetter zusammen. Im Herbst vergraben sie sich so tief wie möglich im Schlamm. Die Fortpflanzung geschieht von Mai bis Juli. Nach der Begattung bohren sie Gänge in die feuchte Ufererde über dem Wasserspiegel und formen ihre Kokons von Größe und Gestalt einer Eichel. Jeder enthält 10-16 Eier von 0,15 mm Durchmesser und wird von dem Tier mit einer weißen, schaumigen Masse umgeben, welche durch Eintrocknen schwammig wird. Nach 6 Wochen kriechen die Jungen aus, aber erst nach 3 Jahren sind sie zum medizinischen Gebrauch tauglich; sie erreichen im 5. Jahr ihre volle Größe und können 20 Jahre alt werden. Man züchtet sie in Blutegelteichen, in denen sie vor ihren Feinden (Wasservögel, Hühner, Ratten etc.) geschützt sind und mit kleinen Fischen oder Kaulquappen gefüttert werden. Einige Züchter treiben wohl dem Tod verfallene Pferde, Esel oder Kühe in die Gruben, um Tausende von Egeln zu gleicher Zeit sich an ihnen vollsaugen zu lassen. Im Winter bedeckt man die Gruben mit Tannenzweigen und Laub. Zur Aufbewahrung der B. benutzt man weite, mit Leinwand überbundene Cylindergläser voll weichen Wassers, zur Versendung meist feuchte leinene Säckchen, welche, von feuchtem Moos umgeben, in einem mit feinen Löchern durchbohren Kistchen liegen. Früher lieferte Deutschland sehr viele B. für den Markt, dann auch Südrußland, Ungarn, Polen. Gegenwärtig ist man meist auf künstliche Zucht angewiesen. Die Stöltersche Anstalt bei Hildesheim vertreibt jährlich fast 3½ Mill. B. Ein großer Markt für B. ist Paris; auch das südliche Europa, besonders die Gegend an den Donaumündungen, ist reich an Blutegeln, und die Ausfuhr aus Triest soll einen jährlichen Wert von 3 Mill. Frank repräsentieren. Sehr große Mengen sendet Australien nach Europa, besonders nach Paris und London, wo die B. noch immer sehr beliebt sind; die meisten australischen B. konsumiert aber Amerika. - Sehr große Egel saugen nicht selten gegen eine Stunde und nehmen dabei bis zu 10 g Blut auf, kleine von 0,2 g saugen eine Quantität Blut, welche 4½mal soviel wie ihr eigner Körper wiegt; große lassen aber schon los, wenn ihr Gewicht um das 3½fache gestiegen ist. Die Verdauung währt bei jungen Blutegeln immerhin 3-5 Monate, bei alten wohl über 1½ Jahr. Nach 2-4 Monaten beißen die B. zwar wieder an, aber ihre volle Saugkraft erreichen sie erst nach viel längerer Zeit. Der völlig leere B. kann über 2 Jahre fasten.

Der medizinische Gebrauch der B. ist nicht sehr alt. In den Pariser Hospitälern sollen von 1829 bis 1836 jährlich 5-6 Mill. B. verbraucht worden sein, gegenwärtig ist aber die Benutzung wieder sehr zurückgegangen. Die Blutentziehung durch B. unterscheidet sich vom Aderlaß besonders durch ihre Dauer und führt daher nicht jenen Kollapsus herbei, welchen der Blutverlust aus einer großen Aderöffnung zu bewirken pflegt. Die Anwendung der B. ist indiziert: bei Entzündungen aller Art, wo man die kleinen Gefäße entleeren will, auf welche das Aderlassen keinen Einfluß übt, bei Quetschungen und Kongestionen, ferner bei Kindern an Stelle des Aderlasses etc.; zu vermeiden: aus entzündeten und entarteten sowie auf sehr dünnen und leicht verschiebbaren Hautstellen, z. B. an den Augenlidern, sowie an Stellen, unter denen größere Blutgefäße liegen. Auf der Wange erregen B. leicht Rotlauf. Bei sogen. Blutern (s. Bluterkrankheit) vermeidet man das Ansetzen der B. ganz. Die Zahl der B. richtet sich nach der Krankheit, dem Organ und dem Individuum. Erwachsenen setzt man 4-30 Stück auf einmal an, Kindern selten über 6. Die Hautstelle wird von Haaren und anhaftenden Unreinigkeiten sorgfältig befreit, mit kühlem Wasser abgewaschen, mitunter mit Milch, Zuckerwasser oder Blut (am besten aus der unreifen Feder eines Huhns oder einer Taube) benetzt, um die Tiere anzulocken. Zu gewissen Stellen, wie Zahnfleisch, Mandeln, Zunge, wählt man eigne Führungsapparate, gerollte Kartenblätter, Glascylinder u. dgl. Nach dem Ermessen des Arztes werden die B. früher oder später durch Bestreuen mit Salz, Asche, Tabak von der Haut entfernt, wenn sie nicht von selbst abfallen; nachher unterhält man in der Regel die Nachblutung durch feuchte Wärme; doch ist hier Vorsicht geboten, da sie sich oft schwer stillen läßt und bei Kindern tödliche Verblutung vorgekommen ist; man schließt später die kleinen Wunden durch Druck oder Schwamm, Scharpie oder kaltes Wasser, Alaunlösung, Höllenstein etc.

Ist ein B. in den Magen geraten, so gibt man Kochsalzlösung und später ein Brechmittel ein; ist er in den Mastdarm geschlüpft, so setzt man ein Klystier von verdünntem Essig. Vgl. Brandt und Ratzeburg, Medizinische Zoologie (Berl. 1829); Moquin-Tandon, Monographie des hirudinées (neue Ausg.,