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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Bulgaren

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Bulgaren.

slawische Stämme vor, welche von der Dobrudscha im O. bis zur Save im W. siedelten. Mit diesen Ackerbau und Viehzucht treibenden Slawen vermengten sich die B. und büßten durch Annahme der Sprache, Religion und Sitte der Besiegten die eignen nationalen Charaktermerkmale bald so vollständig ein, daß Sieger und Besiegte schon gegen Ende des 9. Jahrh. nur noch ein Volk bildeten, das von den Unterjochten sein individuelles Gepräge, von den Eroberern aber den noch heute fortlebenden Namen B. (bulgarisch B'lgar) empfing. Die finno-uralischen B. hinterließen keine Schriftdenkmäler in ihrer heimatlichen Sprache und nur wenige vereinzelte Wörter im heutigen Bulgarischen, denn die uns von griechischen Chronisten überlieferten Namen von Fürsten sowie einige Ortsnamen bieten geringe Anhaltspunkte zur Aufklärung der Abkunft jener Finno-B. Die Religion der letztern war eine seltsame Verquickung von Islam und Heidentum, welche nur schwer den von Byzanz zu ihnen gesandten Missionären wich. Erst nach vielfachen Kämpfen fand das Christentum Eingang, und mit ihm erhielt im 9. Jahrh. das neue bulgarische Mischvolk das Cyrillische Alphabet.

Die B. sitzen, umgeben von Serben, Rumänen, Albanesen und Türken, noch heute innerhalb der alten Grenzen, welche sie vor 1000 Jahren innehatten. Nur hier und da mit fremden Nationalitäten gemengt, wohnen sie vom Timok, dem obern Lauf des Wardar und vom See von Ochrida an bis fast ans Schwarze Meer, im N. bis an die Donau und im S. fast zum Ägeischen Meer reichend, wo, der altbyzantinischen Tradition eingedenk, das griechische Handelsvolk sie nicht bis an das Salzwasser vordringen ließ. Im Fürstentum Bulgarien, in Ostrumelien und Makedonien machen sie die Hauptmasse der Bevölkerung aus. Verloren an Terrain haben die B. im W. ihres Gebiets an die Albanesen, die sich in den fruchtbaren Thälern der Toplitza, am obern Wardar bis zur bulgarischen Morawa einnisteten. Auch durch Auswanderung nach dem Banat, wo 26,000 katholische B. wohnen, und nach Bessarabien, wo die bulgarischen Kolonien etwa 14,000 Seelen zählen, haben die B. viel verloren. Was die Gesamtzahl der B. betrifft, so ist man aus Mangel genügender Unterlagen auch heute noch auf Schätzungen angewiesen; während die B. selbst sich mit 6, ja 7 Mill. Seelen beziffern, nimmt, wohl richtiger, Kanitz nur 5 Mill. an.

Der Körperbau des Bulgaren ist im westlichen Balkan, wo er sich am reinsten erhalten hat, gedrungen, muskulös, mehr mager als fett, mit ovalem Gesicht, gerader Nase, engen, kleinen Augen, blondem, selten dunklem Haar. Der Gesichtsausdruck ist intelligent, ernst und zeugt von Beharrlichkeit. Wie die Untersuchungen von Kopernicki, Virchow und Beddoe dargethan haben, gleicht der Schädel der B. durchaus nicht demjenigen der übrigen Slawen, aber ebensowenig demjenigen der Finnen, er hat vielmehr eine eigne Form, die oft an jene der Australier erinnert, und bei der Prognathismus häufig vorkommt. Das weibliche Geschlecht ist oft hübsch in der Jugend, mit der Verheiratung schwinden aber alle Reize unter dem Druck harter physischer Arbeit. In den stärker vordringenden Backenknochen und eng geschützten Augen der B. dürfte man ein Überbleibsel aus der Blutmischung mit den finno-uralischen Eroberern erblicken, während die Kreuzung mit dem finnischen Stamm in Bezug auf die Sprache noch geringere Niederschläge hinterließ, denn der Bau der altbulgarisch-slawischen Schriftsprache steht unter allen slawischen Idiomen der großrussischen Sprache am nächsten. Doch haben serbische, griechische, romanische, albanesische und türkische Elemente sich in der Sprache eingenistet, welche außerdem durch mangelnden Infinitiv und den Gebrauch des Artikels von andern slawischen Sprachen abweicht.

In der Tracht erscheint der Bulgar von allen seinen Nachbarn gesondert; an die Stelle des sonst auf der Balkanhalbinsel üblichen Fes tritt die Tschubara, eine Mütze aus Schaffell, unter welcher das Kopfhaar lang oder als Zopf geflochten herabhängt. Gleich den Türken scheren die B. ihr Haar bis auf einen langen Haarbüschel am Scheitel. Sonst machen bunt ausgenähte Hemden, weite Beinkleider aus Leinen oder Abbatuch, roter Leibgürtel, Jacke und langer Rock, im Winter ein Schafpelz sowie Bundschuhe die Tracht der Männer aus; bei den Frauen hat beinahe jeder Kreis seine eigne bunte Tracht. Besondere Sorgfalt wird auf die Ornamente der Hemdstickereien verwendet, auch sind die Frauen und Mädchen reich mit Metallschmuck behängt. Ungraziös sind die weiten, sackartigen, von den Türken adoptierten Hosen der Frauen. Was unter den B. zur Intelligenz zählt, hat jetzt die allgemein europäische Kleidung angenommen, und die Jugend der gebildeten Stände, von deutschen und französischen Erziehern geleitet, emanzipiert sich mehr und mehr von den alten Sitten. Bei der Landbevölkerung sind dieselben aber noch in vollster Kraft, hier wird noch der altnationale Horotanz zur Gusle (Geige) und Swirka (Flöte) getanzt, hier erklingen die heitere Stoffe besingenden Volkslieder. Auch die Stellung der Frau ist hier dieselbe niedrige wie ehemals geblieben: sie ist das Lasttier, das auf dem Feld arbeiten, färben, bleichen, ja selbst die Häuser bauen muß. Die B. leben nach den Gesetzen der slawischen Familienverfassung (Hauskommunion, Zadruga) beisammen, deren Einfluß sich im Bau der Gehöfte kundgibt, wo um das mit Ziegeln gedeckte Haus des Stareschina (Ältesten) die kleinern Häuschen der verheirateten Söhne und die auf Pfählen stehenden Speicher (Kolibas) sich gruppieren. In den Städten ist der Bulgar Kaufmann, Krämer und Handwerker; dem gelehrten Stand gehören noch wenige an, desto mehr sind Priester und Mönche. Eine eigne, besonders zur Zeit der Türkenherrschaft blühende Klasse machen die Haiduken aus, Briganten, die namentlich im Balkan hausen und ein fest organisierter, charakteristischer Bestandteil des Volkes sind. Auf dem Lande treibt der Bulgar Viehzucht, Ackerbau und Industrie, doch leidet die Bodenwirtschaft unter den verwickelten Rechtsverhältnissen, welche auf den Grundbesitzern lasten. Namentlich wird Mais gebaut; das milde Klima begünstigt die Seidenzucht; auch ist die Fabrikation des Rosenöls eine bulgarische Spezialität. Die primitive Industrie der B. erstreckt sich auf Silber- und Eisenarbeiten, Teppiche, Stickereien, Holzschnitzereien in stilvoller Behandlung und herrlicher Ornamentierung.

Der bei weitem größte Teil des bulgarischen Volkes bekennt sich zur griechisch-orthodoxen Kirche. Etwa 300,000, die sogenannten Pomaken (s. d.), sind Mohammedaner; im Banat und bei Sistova an der Donau leben in einigen Dörfern 60,000 Katholiken. Trotz der Thätigkeit amerikanischer Missionäre ist die Anzahl der Evangelischen unter den B. sehr gering. Der mittelalterliche Bann, der auf der bulgarischen Kirche lastet, seit die Griechen von derselben Besitz genommen, hat seine tiefen Spuren zurückgelassen. Nahezu unberührt von dem moralischen Gehalt der Christuslehre, den selbst ihre Priester kaum mehr als der äußern Form nach erfassen, steckt der Bulgar noch ganz in heidnisch-altslawischen Traditionen und Bräu-^[folgende Seite]