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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Chemie

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Chemie (reine und angewandte C.).

einfache entstehen niemals in lebenden Organismen. Ließ man die Einteilung in organische und unorganische C. fallen, so konnte man dafür eine andre, nach welcher die Verbindungen des Kohlenstoffs von denen der übrigen Elemente gesondert behandelt werden sollten, wenigstens in dem oben angedeuteten Sinn, auch nicht aufrecht erhalten; wohl aber hat man ohne alle Rücksichtnahme auf das Vorkommen oder Nichtvorkommen der Stoffe in Organismen die Kohlenstoffverbindungen, welche so ungemein zahlreich sind und vielfach andre Erscheinungen darbieten, für sich behandelt, und an ihrem Studium hat die C. einige ihrer größten Fortschritte gemacht. Die neuen Theorien sind zunächst speziell für die Kohlenstoffverbindungen ausgebildet und erst später auf die sogen. unorganische C. angewendet worden. Daß aber der Kohlenstoff nicht in einem besondern Gegensatz zu den übrigen Elementen sich befindet, zeigen jene Verbindungen, in welchen Metalle, Phosphor, Antimon, Arsen etc. in Kohlenstoffverbindungen eintreten, um Körper zu bilden, welche stickstoffhaltigen Kohlenstoffverbindungen an die Seite gestellt werden können. Besonders aber bilden die Kiesel- oder Siliciumverbindungen einen unmittelbaren Übergang. Es ist nämlich eine Reihe von Körpern dargestellt worden, welche ganz genau gut studierten Kohlenstoffverbindungen entsprechen, aber an Stelle der Kohlenstoffatome gleich viele Kieselatome enthalten. Man kennt eine Kieselessigsäure, Kieselpropionsäure, Kieselbenzoesäure und auch zusammengesetzte Äther dieser Säuren.

Der reinen C., welche sich lediglich der Erforschung der chemischen Verhältnisse der Elemente und ihrer Verbindungen widmet, steht die angewandte C. gegenüber, welche die bei andern Disziplinen in Betracht kommenden chemischen Verhältnisse kennen lehrt. Sie hat einen ungemein großen Umfang, denn die C. tritt als Hilfswissenschaft sehr vieler andern Wissenschaften auf, und fast alle verdanken ihr einen großen Teil ihrer Erfolge. Die C. lehrt die Zusammensetzung der Mineralien und ihre Wandlungen durch die in den Gesteinen verlaufenden chemischen Prozesse. In der Geologie datiert eine neue Epoche von jener Zeit, wo man anfing, bei der Deutung geologischer Erscheinungen die C. zu Rate ziehen. Und nicht bloß mit unserm Erdkörper hat sich die C. in solcher Weise beschäftigt, sie wurde durch die Spektralanalyse auch befähigt, ferne Weltkörper und die Nebelflecke zu untersuchen, und hat in dieser Anwendung auf die Astronomie eine ganz neue Wissenschaft begründet. Die Pflanzenchemie lehrt die Bestandteile der Pflanzen kennen, erforscht deren Bildung und Umwandlung in der Pflanze und gewährt uns damit eine Vorstellung vom Leben dieser Organismen. Dabei kommen auch das Verhältnis der Pflanze zum Boden und die C. des letztern in Betracht, und so entsteht die Agrikulturchemie, deren Ergebnisse als eine der wesentlichsten Grundlagen der modernen rationellen Landwirtschaft gelten können. Die Tierchemie verfolgt ähnliche Zwecke im Tierreich, sie befähigt den Landwirt, seine Haustiere rationell zu ernähren, um den größten Ertrag an Fleisch, Fett, Milch etc. zu erzielen; aber sie stellt sich auch höhere Aufgaben und sucht vor allem die Erscheinungen des Lebens zu deuten, auf chemische Verhältnisse, soweit solche dabei in Frage kommen, zurückzuführen. Die so durch die physiologische C. gewonnene Erkenntnis wird dann die Basis der Diätetik und der Heilkunde für Menschen und Tiere, denn auch die krankhaften Vorgänge bilden ein Objekt der Forschung, und indem man die chemische Natur dieser Vorgänge erkennt, ergibt sich in vielen Fällen zugleich das Mittel, durch welches sie bekämpft werden können. Die C. hat der Heilkunde reinere Arzneimittel geliefert, sie hat aus den Pflanzenstoffen die wirksamen Bestandteile abgeschieden und in diesen viel zuverlässigere Arzneimittel hergestellt, als die Kräuter und Rinden mit ihrem wechselnden Gehalt sein konnten. Sie hat aber auch ganz neue Heilmittel entdeckt, welche heute zum Teil die wichtigsten Dienste leisten. Chloroform, Chloralhydrat, Apomorphin, Amylnitrit sind einige solcher Präparate, deren Zahl sich von Jahr zu Jahr vergrößert. Die durch das Mikroskop ermöglichte Erforschung des feinsten Baues der Organismen mußte lange auf Unterscheidung der stofflichen Verschiedenheit der sichtbar gemachten morphotischen Teile verzichten, bis die Mikrochemie die Reagenzien auffand, welche, zu dem mikroskopischen Präparat hinzugefügt, charakteristische Färbungen hervorbringen. Auch die Gestalt und die Gruppierung mikroskopischer Kristalle boten Gelegenheit zur Unterscheidung minimaler Mengen verschiedener Körper. Mit großem Erfolg wurde die Mikrochemie auch für die mikroskopische Erforschung der Gesteine ausgebildet. Die Technik, welche so lange auf die roheste Empirie angewiesen war, hat durch die technische C. eine ganz neue Gestalt gewonnen. Die C. lehrte die Beschaffenheit der Rohstoffe kennen und ermöglichte eine passende Auswahl unter denselben; sie zeigte die Wandlungen dieser Rohstoffe in den verschiedenen technischen Prozessen und gab Rechenschaft über die Erfolge der einzelnen Methoden. Nicht alle Zweige der Technik haben sich gleich willig gezeigt, die C. als Führerin zu acceptieren; wo dies aber rückhaltlos geschah, sind außerordentliche Resultate erzielt worden. Ein glänzendes Beispiel bieten die Rübenzuckerfabrikation und die Farbentechnik, welche durch die zahlreichen schönen Teerfarbstoffe so wesentlich bereichert wurde. Der Technik kamen alle jene Forschungen zu gute, welche der künstlichen Darstellung von Pflanzenstoffen galten. Die Gewinnung des Alizarins oder Krappfarbstoffs aus dem im Steinkohlenteer enthaltenen Anthracen machte dem Krappbau ein Ende und ließ eine Anzahl von Fabriken entstehen, welche diesen Körper für die Färbereien und Druckereien herstellen. Auch Benzoesäure, Senföl, Baldriansäure etc. werden jetzt fabrikmäßig ohne Benzoegummi, Senfsamen und Baldrianwurzel gewonnen, und die neueste Entdeckung betrifft die Darstellung des Vanillearomas aus Nadelhölzern und des Indigos aus Steinkohlenteer. Die analytische C. leistet die wesentlichsten Dienste zur Beurteilung der Handelsartikel. Die Fabrikate der chemischen Großindustrie werden meist mit Angabe ihres Gehalts auf den Markt gebracht; auch für den Spiritus gilt derselbe Gebrauch, und der Konsument erhält dadurch eine Sicherheit, welche auf keine andre Weise zu erreichen ist. Nur durch eine öffentlich geübte chemisch-analytische Überwachung der Waren kann der vielfach überhandnehmenden Verfälschung wirksam vorgebeugt werden. Die C. weist genau den oft durch künstliche Mittel verdeckten wahren Wert der Handelsartikel nach und entlarvt den Schwindel, der sich besonders im Geheimmittelwesen breit macht. Hier beginnt auch das Gebiet der gerichtlichen C., welche das Verbrechen verfolgt, durch den Nachweis von Gift, Blut, Sperma etc. ein Corpus delicti von hoher Beweiskraft schafft, oder durch die Enthüllung der wahren Beschaffenheit einer Ware u. dgl. den Streit schlichtet.

^[Artikel, die unter C vermißt werden, sind unter K oder Z nachzuschlagen.]