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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Chinesische Sprache und Litteratur

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Chinesische Sprache und Litteratur (heilige oder kanonische Bücher).

lentz ("Chinesische Grammatik", Leipz. 1881, und "Anfangsgründe der chinesischen Grammatik", das. 1883). Hierzu kommen zahlreiche Werke über einzelne Dialekte und rein praktische Hilfsbücher.

Die chinesische Litteratur.

Unsre Kenntnisse der chinesischen Litteratur befinden sich noch immer in den Anfängen. Unsre Kultur beruht auf griechisch-römischen und hebräischen Grundlagen, die Inder und Perser sind uns stammverwandt; mit den Arabern sind wir im Mittelalter in einen geistigen Austausch getreten, dessen Folgen bis auf den heutigen Tag fortdauern; dagegen standen Kunst und Wissen der Chinesen in ihrem Ursprung und bis auf die neueste Zeit auch in ihrer Entwickelung der europäischen Geistesbildung ganz fremd gegenüber: was Wunder also, daß der Kreis ihrer Verehrer ein engerer ist und doch handelt es sich um ein Feld von fast unermeßlichem Umfang und von vielversprechender Fruchtbarkeit. Der Bändezahl nach dürften die chinesischen Preßerzeugnisse mit in die erste Reihe, wo nicht obenan zu stellen sein, und an Vielseitigkeit kommt der Litteratur des Mittelreichs keine der andern außereuropäischen gleich. Seit beiläufig vier Jahrtausenden ist sie von dem zahlreichsten Kulturvolk der Erde gepflegt und gemehrt worden unter äußern Umständen, wie sie sich günstiger kaum denken lassen. Litterarische Bildung wurde fast stets von oben gefördert und geschützt, vom Volk bewundert und erstrebt; seit dem 10. Jahrh. werden die Bücher durch Druck, oft zu Spottpreisen, der Menge zugänglich gemacht.

Der Chinese ist seiner Anlage nach konservativ, und das äußert sich auch in seiner Litteratur. Die Alten werden immer mit gleichem Eifer gelesen, immer aufs neue herausgegeben und kommentiert; sie gründlich kennen, ist erste Voraussetzung der Bildung, Zweck und Ziel des höhern, wir würden sagen des Gymnasialunterrichts. Die Alten aber loben ihrerseits die noch Ältern, immer und immer weisen sie auf das erhabene Vorbild der Vorfahren hin. Dabei hat denn freilich das Neue, Originelle einen schweren Stand. Wird es bei uns von der Leserwelt mit oft unverdientem Entzücken begrüßt, von untergeordneten Schriftstellern erhascht und nachgemacht, so steht ihm dort das allgemeine Mißtrauen, oft selbstgenügsame Gleichgültigkeit entgegen, die zu überwinden nur besonderm Verdienst oder Glück gelingt. Und doch sind Volk und Litteratur des Mittelreichs keineswegs so langweilig uniform, so ganz der Originale bar, wie man gemeinhin glaubt. Bahnbrechende Genies haben auch hier dem Geschmack neue Richtungen gegeben, dem Denken neue Gebiete erschlossen, und gerade uns Europäern werden die leichte Anmut, die Lebensfrische und Lebenswahrheit mancher Erzeugnisse der neuern Belletristik mehr zusagen als manches hochgefeierte Werk der alten Weisen. Eigentliche geistige Revolutionen hat China nie erlebt; allerdings hat es wohl auch nie geistige Zwangsjacken getragen, deren Sprengung Reformatorenkräfte erfordert hätte. Die Presse ist frei, religiöse Duldsamkeit allgemein.

Die Chinesen stellen unter ihren Büchern fünf obenan, die sie King ("kanonische") nennen. Sie sind, gleich unsrer Bibel, nicht einheitlichen Inhalts, sondern eine Sammlung derjenigen alten Schriften, die man als ewig normgebende anerkannt hat. Unter ihnen wieder nimmt das Iking oder "Buch der Wandlungen" die erste Stelle ein, ursprünglich kein eigentliches Buch, sondern eine Tafel von Diagrammen (Kua genannt), die an die Figuren unsrer Punktierbücher erinnern. Sie bestehen aus zwei Elementen, einer ganzen: - und einer gebrochenen Linie: - -. Kombiniert man diese dreistellig, so erhält man acht Figuren: ^ ^ ^ etc.; kombiniert man sie sechsstellig, so ergeben sich 64 Figuren. Man sieht, diese Figuren beruhen auf einem Dualismus; dualistisch aber ist das menschliche Denken und Empfinden von Haus aus, und so lag es nahe, diese Kombinationen zu verwerten, sie metaphysisch zu deuten. Von jeher wurden sie mit fast religiöser Ehrfurcht betrachtet, als enthielten sie die Summe der Weisheit; immer haben sie den Scharfsinn der einen, den Aberglauben der andern gereizt, und heute noch wollen Männer der Wissenschaft kosmologische und moralische Wahrheiten in ihnen entdecken, während Wahrsager sie auf die Lostafeln schreiben, aus deren Fall sie die Zukunft zu künden vorgeben. Die Entstehung dieser Diagramme wird in die mythische Vorzeit Chinas verlegt. Fürst Wenwang und sein Sohn Tscheukong gelten für die ältesten Erklärer; weitere Erläuterungen dazu schrieb Konfucius, ein großer Verehrer des Iking selbst, und eine Unzahl Späterer haben sich in fernern Kommentaren des dunkeln Buches versucht. Das Schiking, meisterhaft übersetzt von V. v. Strauß (Heidelb. 1880), ist eine von Khung-tse (Konfucius) veranstaltete Sammlung lyrischer Gedichte, deren älteste aus dem 18. Jahrh. v. Chr. herrühren. Das Buch enthält teils Volkslieder, nach ihren Heimatsprovinzen geordnet, teils Gelegenheits- und Festgedichte aus den höhern und höchsten Kreisen, teils Lobgesänge auf große Tote. Tiefe Innigkeit, zuweilen beißender Witz, oft hoher poetischer Schwung sind diesen Erzeugnissen eigen; rührende Naivität, sinniges Verbinden der Natureindrücke mit den innern Stimmungen, Verspaare, die sich ahnungsvoll, nur immer leise abgeändert, von Strophe zu Strophe wiederholen, den Refrains unsrer Volkslieder vergleichbar: das alles verleiht ihnen einen ästhetischen Reiz, welcher das ihnen gebührende wissenschaftliche Interesse noch überbietet. Früh schon haben die Chinesen den Wert des Liedes begriffen. In den Gesängen eines Volkes meinte man Äußerungen seines sittlichen und materiellen Befindens zu erkennen, daher während der Feudalzeit des Reichs der Brauch, die Volkslieder amtlich sammeln zu lassen. Das leider nicht mehr vollständig erhaltene Schu ("Buch") oder Schuking, ein von Konfucius gefertigter Auszug aus amtlichen Urkunden, ist das älteste uns erhaltene geschichtliche Werk der Chinesen. Es umfaßt die Zeit vom 24. bis zum 8. Jahrh. v. Chr., enthält aber weniger geschichtliche Daten als amtliche Erlasse, Ratschläge etc. der Fürsten, die ein Bild alter Staatsweisheit liefern. Das Tschhünthsiéu, das einzige von Konfucius wirklich verfaßte Buch, ist ein überaus trocken und kurz gehaltenes historisches Werk, die Zeit vom 8. bis 5. Jahrh. vor unsrer Zeitrechnung und namentlich die Geschichte des kleinen Staats Lu, aus dem der Weise stammte, behandelnd. Sein hohes Ansehen verdankt es wohl jener Verfasserschaft allein; einen eignen Wert aber hat es in chronologischer Hinsicht wegen der Sorgfalt, mit der es der eingetretenen Sonnenfinsternisse gedenkt. Unter dem Ausdruck Li fassen die Chinesen etwa das zusammen, was sich gebührt: gute Sitte, Zeremoniell, Etikette, aber, dem polizeistaatlichen Wesen der Nation entsprechend, auch sonst das Ordonnanz- und Reglementsmäßige. Es lag nahe, das hierauf Bezügliche in Büchern zu sammeln, die bei aller Verschiedenheit

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