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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Darwinismus

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Darwinismus (natürliche Zuchtwahl, Mimikry, Funktionswechsel).

Züchtung wurde übrigens gleichzeitig mit Darwin von Wallace zur Erklärung der Wesenmannigfaltigkeit und der Zweckmäßigkeit ihres Baues angewendet (Zuchtwahl- oder Selektionstheorie).

Um die Wirkungsweise der natürlichen Auslese zu verstehen, muß man sich erinnern, daß die Mitbewerbung wegen der Gleichartigkeit der Ansprüche an Boden, Nahrung, Sicherheit gegen Nachstellungen etc. unter den Angehörigen derselben Art am stärksten sein würde, und daß hier geringe körperliche Vorzüge nach der einen oder andern Richtung, z. B. auf einem trocknen Boden und in einer trocknen Jahreszeit das Vermögen, mit etwas weniger Feuchtigkeit auszukommen, oder die Fähigkeit, durch eine bestimmte Färbung den Feinden besser zu entgehen, zum Sieg führen können; es ist das Überleben des Passendsten, wie Herbert Spencer den Vorgang genannt hat. Die vielbewunderte Zweckmäßigkeit des Baues und die vollkommene Anpassung bestimmter Organismen für ihre Lebensverhältnisse sind in dieser Auffassung nichts andres als die Endergebnisse eines allseitigen Variationsvermögens im allgemeinen Konkurrenzkampf; nur das unter den gegebenen Verhältnissen Zweckmäßigste kann gegen seinesgleichen aufkommen und Fortdauer erringen. Einige Beispiele werden die Sache deutlicher machen. Es ist seit langem bekannt, daß sehr viele Tiere in die Farbe ihrer Umgebung gekleidet sind, z. B. die Polartiere in die Farbe des Schnees, die Wüstentiere in ein sandgelbes Gewand; die auf der Erde lebenden Tiere sind häufig grau oder graubunt, die Baumraupen und Frösche grün, viele Seetiere sind beinahe durchsichtig wie Glas. Die Theorie der natürlichen Auslese erklärt, daß sie diese Schutzfarben erlangen konnten, weil auf diese Weise gefärbte Varietäten ihren Feinden am besten entgehen oder die zu ihrer Nahrung dienenden Tiere leichter beschleichen konnten, da sie sich von ihrer Umgebung nicht unterschieden. Bei vielen Tieren ist diese Nachahmung oder Mimikry bis auf die Zeichnung der Rinden oder Blätter ausgedehnt worden, auf denen sie gewöhnlich unbeweglich sitzen, z. B. bei Nachtschmetterlingen, Heuschrecken, Raupen etc. Anderseits findet man sehr viele giftige oder widrig schmeckende und duftende Seetiere, Raupen, Schmetterlinge, Amphibien und Reptilien so lebhaft gefärbt und gezeichnet, daß man sie bereits von weitem von dem Grund, auf welchem sie sitzen, unterscheiden kann. Diese Tiere werden, wie man sich durch den Versuch überzeugen kann, von den Tieren, denen ihresgleichen zur Beute dienen, gemieden; die grell gefärbten und von ihrer Nährpflanze stark abstechenden Raupen werden z. B. nicht von Vögeln angerührt, welche unscheinbar gefärbte Raupen begierig fressen. Man kann daher annehmen, daß es sich hierbei um Trutzfarben handelt, d. h. um Farben, die sich durch die natürliche Auslese zu Warnungssignalen ausgebildet haben, an denen Vögel und andre Insektenfresser gern gemiedene Tiere schon von weitem erkennen. Wallace und Bates haben ferner die Entdeckung gemacht, daß derartige auffällig gekleidete Tiere, welche nur wenig Verfolger besitzen, von andern Arten nach Form und Färbung nachgeahmt werden, so daß sich zwei oder mehrere einander im sonstigen Bau ganz fern stehende Tiere im Aussehen sehr ähnlich werden. Man bezeichnet diese namentlich bei Schmetterlingen, aber oft auch bei andern Insekten, Vögeln und Reptilien beobachtete Erscheinung als Nachahmung geschützter Arten oder Mimikry im engern Sinn.

Was hier in Bezug auf die äußere Färbung mit einigen Worten ausgeführt wurde, bezieht sich aber auch auf den innern Bau, auf die gesamte Organisation, ja auf die Instinkte und Geistesfähigkeiten der Tiere; überall muß die natürliche Auslese das für die bestimmte Lebensweise Zweckmäßigste hervorgebracht haben. Hierher gehören natürlich auch Waffen und Panzer der Tiere, Verstärkungen des Gebisses für besondere Zwecke, Umgestaltungen der Füße zu Lauf-, Scharr-, Greif- und Ruderfüßen, bei den Pflanzen Aussäungsvorrichtungen, welche die möglichste Verbreitung einer Pflanze sichern, etc. Die erlangte Zweckmäßigkeit ist in allen Einzelfällen eine relative, denn eine allen Verhältnissen der einen Lebensweise (z. B. dem Wasserleben) angepaßte Tierart wird in den meisten Fällen für andre Verhältnisse (z. B. für das Leben auf der Erde oder auf Bäumen) sehr unzweckmäßig organisiert erscheinen. Indessen läßt sich unschwer verstehen, wie die Auslese als treibendes Agens auch zu Steigerungen der allgemeinen Leistungsfähigkeit führen, d. h. eine Vervollkommnung der Lebewesen von niedern Stufen zu höhern bewirken konnte. Das hierfür von der Auslese in Bewegung gesetzte Prinzip ist hauptsächlich das der Arbeitsteilung (s. d.). Die Vollkommenheitsstufe eines Lebewesens prägt sich stets am einfachsten dadurch aus, daß sein Körper zur Ausführung der verschiedenartigsten Leistungen immer spezialisierter entwickelte Organe ausgebildet hat. An die Stelle einer gleichartigen, alle Lebensthätigkeiten ausführenden Substanz, wie des Protoplasmas der niedersten Urwesen, treten, wenn wir etwas höher steigen, allmählich Substanzteile, die durch besondere Eigenschaften besondern Leistungen angepaßt sind. Aus gemeinsamen Funktionskreisen löst sich ein Glied nach dem andern, um in höhern, zusammengesetzten Formen durch besondere Teile oder Organe vertreten zu werden. Nicht plötzlich wachsen dabei dem Körper neue Organe zu, sondern es findet meist ein Funktionswechsel statt; die Haut, welche bisher das Allgemeingefühl vermittelte, wird an besondern Stellen empfindlicher für Lichtwirkungen und an andern für Geschmacks- und Geruchsempfindungen; aus der früher nur nebenbei den Gasaustausch vermittelnden Schwimmblase der Fische entstand die Lunge der Lufttiere etc. Es liegt aber auf der Hand, daß solche Spezialisationen von der Auslese begünstigt werden müssen, da durch sie immer mehr Wesen zum Genuß besonderer Nährstellen im Naturhaushalt befähigt wurden, unter denen dann die Konkurrenz stets leistungsfähigere Organisationen schaffen mußte, immer unter der Voraussetzung der, soweit wir sehen, unbegrenzten Variationsfähigkeit. Natürlich darf dieser Fortschritt zu höherer Vollkommenheit nicht wie ein allgemeines Ziel oder wie ein Endzweck betrachtet werden, denn das würde den Thatsachen widersprechen. Wir sehen vielmehr, daß, wenn auch im allgemeinen ein steter Fortschritt zu höhern Organisationen in der Natur seit jeher stattgefunden zu haben scheint, dabei doch auch zahllose Rückschritte und häufig ein tiefes Herabsinken von bereits erlangten Stufen höherer Organisation unter Tieren und Pflanzen stattgefunden hat. Eine Krebsart, die sich im Laufe vieler Generationen daran gewöhnte, auf Kosten andrer Wesen von deren Säften zu leben, konnte dadurch vielleicht gewisse bei der ältern, selbständigen Ernährungsweise stehen gebliebene Geschwister überleben und büßte dabei durch Nichtgebrauch alle Sinnes- und Bewegungsorgane ein, für sie war der Rückschritt vorteilhafter als der Fortschritt, und so haben auf einigen ozeanischen Inseln einige Käfer