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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutsch-französischer Krieg von 1870/71

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Deutsch-französischer Krieg von 1870/71.

Die Erhebung der Provinz.

Auch die französische Regierung war nicht müßig. Die Befestigung von Paris wurde verstärkt und erweitert, die Organisation der Streitkräfte energisch betrieben und eine stattliche Feldarmee gebildet. Um den Widerstand in den Provinzen zu organisieren, waren zwei Mitglieder der provisorischen Regierung, Crémieux und Glais-Bizoin, als Delegierte nach Tours entsandt worden; ihnen folgte 6. Okt. in einem Luftballon Gambetta, der selbst die Leitung des Kriegsministeriums übernahm und die Seele der Nationalverteidigung wurde. Aus den ohne Ausnahme unter die Fahnen gerufenen waffenfähigen Mannschaften wurden neue zahlreiche Truppenkörper gebildet. Aus Algerien wurden alle verfügbaren Bataillone herangezogen, die Kriegsflotten aus der Ost- und Nordsee, welche gegen die deutschen Küsten gar nichts ausgerichtet hatten, abberufen und die beträchtlichen Hilfsmittel der Marine an Offizieren, Mannschaften und Geschütz für den Landkrieg verwendet. Getäuscht durch die Legende von 1793, glaubte Gambetta durch den kleinen Krieg der Franctireurs die Feinde beunruhigen und ermüden sowie durch die Masse der Volksheere erdrücken zu können.

Während die in Paris eingeschlossenen Truppen bereits 30. Sept. mit Ausfällen begannen, welche die Zernierungsarmee schwächen und die Möglichkeit eines Durchbruches erproben sollten, bildeten sich in Lille, Orléans und Lyon die ersten Provinzialheere. Am ansehnlichsten war die Loirearmee unter General La Motterouge, und als diese sich von Orléans nach Norden in Bewegung setzte, wurde ihr von der deutschen Armee vor Paris General v. d. Tann mit dem 1. bayrischen Korps und der 22. preußischen Division entgegengeschickt, welcher die Franzosen 10. Okt. bei Artenay schlug und darauf Orléans, Châteaudun und Chartres besetzte. Indes ließen sich Gambetta und sein Gehilfe Freycinet nicht abschrecken; sie betrieben die Rüstungen nur mit um so größerm Eifer, und Aurelle de Paladines vereinigte Ende Oktober südlich der Loire eine Armee, welche zwar wenig Kavallerie, auch keine starke Artillerie besaß und wegen Mangels an tüchtigen Offizieren geringen innern Halt hatte, aber wegen ihrer Größe (gegen 200,000 Mann) und der Kampflust der Truppen dem kleinen Tannschen Korps gleichwohl gewachsen war. In der That wurde dasselbe 8. Nov. gezwungen, Orléans zu räumen, und ging nach dem Gefecht von Coulmiers 9. Nov. bis Toury zurück, wo es von der 17. Division verstärkt wurde. Gleichzeitig drangen von Le Mans beträchtliche Scharen gegen Chartres und Dreux vor, und auch im Norden machte sich die von Bourbaki gebildete Armee bemerklich. Die Franctireurs wurden namentlich gegen die deutschen Kavalleriedetachements immer dreister. Die Lage der Zernierungsarmee vor Paris, welche an Zahl kaum halb so stark war wie die in Paris eingeschlossenen Truppen, war unter diesen Umständen keine unbedenkliche, zumal ihr für die Verpflegung bloß eine einzige Eisenbahnlinie zur Verfügung stand.

Indes die Kapitulation von Metz 27. Okt. befreite sie aus jeder Gefahr. Durch sie fielen 173,000 Mann mit 6000 Offizieren in deutsche Gefangenschaft, und die erste und zweite deutsche Armee wurden für den Schutz der Armee vor Paris und für den Krieg in der Provinz verwendbar, der nun mit Thatkraft und Erfolg geführt wurde. General v. Manteuffel rückte mit dem 1. und 8. Korps nach dem Norden, warf die Franzosen 27. Nov. bei Amiens zurück, besetzte 18. Nov. diese Stadt, 5. Dez. Rouen und 9. Dez. Dieppe. Die französische Nordarmee mußte von Faidherbe in den Festungen erst von neuem organisiert werden. General v. Werder ging nach dem Fall von Schlettstadt und Neu-Breisach zum Schutz der Belagerung von Belfort bis Dijon vor und schlug alle Angriffe Garibaldis siegreich zurück. Prinz Friedrich Karl aber führte das 3., 9. und 10. Korps in Eilmärschen nach der Loire, wo Aurelle de Paladines der Heeresabteilung des Großherzogs von Mecklenburg unthätig gegenüberlag. Der französische Feldherr hielt es trotz allen ungeduldigen Drängens Gambettas und Freycinets für notwendig, vor weitern Unternehmungen die Armee wirklich kriegstüchtig zu machen und sich mit Trochu über einen Versuch, Paris zu entsetzen, zu verständigen. Er blieb also in seinen Stellungen nördlich von Orléans an dem großen Wald stehen. Als Gambetta jedoch die Nachricht erhielt, daß Trochu die deutschen Linien im Südosten durchbrechen wolle, befahl er eigenmächtig dem rechten Flügel der Loirearmee (18. und 20. Korps), auf Fontainebleau vorzustoßen, um den Parisern die Hand zu reichen. Als dieser Versuch durch den tapfern Widerstand des 10. Korps bei Beaune la Rolande (28. Nov.) scheiterte, schickte er Chanzy 1. Dez. mit dem linken Flügel gegen Loigny vor. Indes auch dieser Angriff wurde vom Großherzog abgewiesen, und nun schritt Prinz Friedrich Karl 3. Dez. seinerseits zum Angriff auf die schon desorganisierte Loirearmee, zersprengte sie in zwei Teile und besetzte 4. Dez. Orléans wieder. Der Ausfall der Pariser Armee unter Ducrot mißlang trotz mutiger Stürme auf die deutschen Positionen auf den Höhen von Champigny (30. Nov. und 2. Dez.).

Gambetta war aber keineswegs entmutigt, vielmehr bot er nur noch mehr Streitkräfte auf, um Paris zu entsetzen und den geheiligten Boden Frankreichs von den Barbaren zu befreien. Aus der zersprengten Loirearmee wurden nach Absetzung Aurelles zwei neue gebildet, die eine unter Chanzy in Le Mans, die andre unter Bourbaki in Bourges. Faidherbe beunruhigte die Manteuffelsche Armee durch wiederholte Vorstöße nach dem Süden und bestand 23. Dez. an der Hallue und 3. Jan. 1871 bei Bapaume zwei zwar nicht siegreiche, aber rühmliche Gefechte. Im Januar 1871 sollte sodann der Hauptangriff auf die Deutschen auf verschiedenen Punkten zugleich erfolgen: die Pariser Armee sollte einen großen Ausfall machen, Faidherbe von Norden und Chanzy von Westen demselben entgegenkommen; der entscheidende Schlag sollte aber im Osten geführt werden, indem Bourbaki durch einen kühnen Zug auf Belfort dieses zu entsetzen, Werders Korps zu zersprengen und durch rasches Vordringen in das Moselgebiet die Deutschen vor Paris und in Orléans von ihrer Verbindung mit dem Rhein und ihrer Verpflegung abzuschneiden beauftragt wurde.

Obwohl Trochu einen neuen Ausfall für aussichtslos hielt, so ließ er ihn doch zu: am 19. Jan. versuchten 100,000 Mann vom Fuß des Mont Valérien aus nach Westen durchzubrechen, wurden aber vom preußischen Korps unter empfindlichen Verlusten zurückgewiesen. An demselben Tag erlitt Faidherbe durch Goeben bei St.-Quentin eine völlige Niederlage u. mußte sich in die nördlichen Festungen flüchten. Der Chanzyschen Armee kam Friedrich Karl mit dem Angriff zuvor: in den siebentägigen Gefechten von Le Mans (6.-12. Jan.) wurde dieselbe bis Laval zurückgeschlagen und für längere Zeit kampfunfähig gemacht. Der Vormarsch Bourbakis gegen Belfort zwang zwar Werder, Dijon zu räumen und westlich der Festung zum Schutz der Belagerung an der Lisaine eine feste Stellung zu nehmen. Der Versuch der Franzosen,