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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Geschichte 18. Jahrhundert. Rivalität Österreichs und Preußens).

pörendsten Herausforderung Deutschlands durch Ludwig XIV. hatte sich zwar 1681 der Reichstag zu einer Revision der seit 1521 bestehenden Reichskriegsverfassung ermannt, welcher die Kreisverfassung zu Grunde gelegt wurde. Jeder der zehn Reichskreise, Österreich und Burgund nicht ausgenommen, war zur Stellung eines festen Kontingents zum Reichsheer, das auf eine Stärke von 40,000 Mann normiert war, und bei einer eventuellen Erhöhung dieser Norm auf die doppelte oder dreifache Truppenzahl zu entsprechender Vermehrung seines Kontingents verpflichtet; die Kosten dieses Reichsheers sollten aus einer gemeinsamen Reichskriegskasse bestritten werden. Aber selbst diese Teilung des Heers in Kreiskontingente war nicht im stande, die schleunige und vollzählige Aufstellung derselben herbeizuführen. In Fällen der Not pflegten die bedrohten Stände durch besondere Bündnisse, sogen. Assoziationen, ihre Streitkräfte zu ihrem Schutze zu vereinigen. Die größern Reichsfürsten stellten ihre Truppen überhaupt nicht zu den Kreiskontingenten, denn dann würden sie, wie z. B. die brandenburgischen, auf mehrere verteilt worden sein, sondern zogen es vor, sie dem Kaiser oder seinen Verbündeten als Hilfstruppen zu stellen, was ihnen zuweilen noch besondere Subsidien einbrachte. Die Kreisheere bestanden daher meist aus einem bunten Gemisch kleinerer Kontingente und waren militärisch von geringem Werte. Das Reichskammergericht, welches von Speier nach Einäscherung der Stadt durch die Franzosen 1693 nach Wetzlar verlegt worden war, genoß keine Autorität. Tausende von Prozessen blieben unerledigt, nur mit den größten Opfern an Geld und Mühe war ein Ausspruch des Gerichts zu erlangen und die Ausführung desselben oft ein Ding der Unmöglichkeit. Der Reichshofrat in Wien, der sich allmählich zu einem mit dem obersten Reichsgericht konkurrierenden Gerichtshof herausgebildet hatte, stand in noch schlimmerm Ruf betreffs der Bestechlichkeit und Parteilichkeit seiner vom kaiserlichen Hof beeinflußten Mitglieder als das Reichskammergericht. Die ständige Wahlkapitulation, welche bei Karls VI. Wahl 1711 durchgesetzt worden war, um ihre Rechte dem Kaiser und den Kurfürsten gegenüber genau festzustellen, machte alle Reformen der Reichsverfassung unmöglich, ohne ihren Verfall aufzuhalten.

Die unverwüstliche Lebenskraft der Nation, welche trotz der Zerstörung des Dreißigjährigen Kriegs und des Elends der französischen Raubkriege sich wieder regte, mußte sich in kleinern Kreisen bethätigen, in den Territorialstaaten und in den Städten. Auch hier traf sie auf allerlei Hemmungen. Ein selbstthätiges politisches Leben war unmöglich, seit die Fürsten in ihren Landen die Rechte der Stände, welche allerdings starr an ihren Privilegien hingen und jeden, auch den berechtigtsten Fortschritt verhinderten, unterdrückt und ein absolutes Regiment mit Günstlings- und Mätressenwirtschaft errichtet hatten. Wie hierbei, so war auch in der Pracht und Sittenlosigkeit des Hoflebens Ludwig XIV. das bewunderte und sklavisch nachgeahmte Vorbild der meisten deutschen Fürsten, welche, französisch gebildet, auch nur französisch redeten und dachten. Der Hofhalt Augusts des Starken von Polen-Sachsen wetteiferte in verschwenderischer Prachtentfaltung mit dem von Versailles. Die Kurfürsten von Hannover, der erste König von Preußen, aber auch die kleinern Fürsten, wie die Herzöge von Württemberg und die Landgrafen von Hessen, entwickelten einen übermäßigen Luxus, der die Kraft des Volkes verzehrte; die Unterthanen seufzten unter der Willkür der Beamten und unter dem Druck unerschwinglicher Steuern; auch an den geistlichen Höfen herrschten Verschwendung und Leichtfertigkeit, wenngleich der Krummstab die Bevölkerung nicht so rücksichtslos auszusaugen verstand wie weltliche Beamte. Aber selbst diese Prachtliebe und Eitelkeit der Fürsten machte sich der emporstrebende Geist des Volkes zu nutze, indem bei Bau und Ausschmückung von Schlössern, Theatern und Galerien die bildenden Künste sich entwickelten und an Universitäten und Akademien Männer wie Leibniz, Thomasius, Wolf u. a. die echte, freie Wissenschaft zur Geltung brachten. Äußerte sich der fürstliche Despotismus auch mitunter noch in empörender Intoleranz gegen Andersgläubige, wie bei der Vertreibung der protestantischen Salzburger (1732), so setzten doch schon viele Fürsten ihren Stolz darein, der religiösen Aufklärung zu huldigen. Das mildere, werkthätige, gefühlsinnige Christentum der sogen. Pietisten begann die starre Eisrinde der lutherischen und calvinistischen Orthodoxie zu zersprengen. Auch der Wohlstand hob sich, zwar langsam und oft unterbrochen, aber doch in sichtbarem Fortschritt; die deutschen Häfen füllten sich wieder mit Schiffen und entwickelten einen fruchtbaren Austausch deutscher und ausländischer Waren. Der Bürgerstand, der Kern der Nation, führte ein strenges, steifes, aber sittlich-ernstes Leben, seine Bildung war beschränkt, aber deutsch, und im innersten Kern gesund und frisch, fühlte er in sich die Kraft und den Trieb, seine geistigen und materiellen Verhältnisse zu verbessern und zu höhern Zielen emporzusteigen.

Ja, in einem Teil Deutschlands erwachte auch wieder patriotischer Sinn, der Staatsgedanke, das erhebende und tröstende Bewußtsein, einem größern Ganzen anzugehören und einem höhern Staatszweck zu dienen. Dies ist das Verdienst des brandenburgisch-preußischen Staats und seiner Herrscher, des Großen Kurfürsten, Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs II. Allerdings nahm dieser Staat, nachdem die Regierung Friedrichs I. durch ihre Verschwendung seine Entwickelung gefährdet hatte, unter Friedrich Wilhelm I. ein rauhes, spartanisches Wesen an, die Beamten, Soldaten und Unterthanen wurden in harte, fast barbarische Zucht genommen, aber es wurde kein Pfennig mehr verschwendet, durch eine ausgezeichnete Verwaltung das Land aus Elend und Verarmung befreit, der Geist religiöser Toleranz dem Staat eingeimpft, die Rechtspflege wohl geordnet und durch vortrefflich geregelte Finanzen und durch ein allein aus Landesmitteln erhaltenes, ausgezeichnet geschultes Heer der Staat auf eigne Füße gestellt. So schwer der Druck des straffen preußischen Regiments auf dem Einzelnen lasten mochte, das Heer, die Beamten, endlich auch das Volk hatten das Bewußtsein, daß ihre Dienste und Opfer nicht umsonst dargebracht wurden, daß der so geschaffene Staat ihnen Ehre, Schutz ihres Rechts und Eigentums verbürge, und daß patriotisches Zusammenhalten dem Ganzen und dem Einzelnen Vorteil bringe. Nicht fürstliche Launen, nicht dynastische Ränke beherrschten den preußischen Hof, sondern der bewußte Staatszweck; Wohl und Größe Preußens waren die Beweggründe, welche Regierung und Volk beseelten und den jungen König Friedrich II. antrieben, in der Krisis, welche das Erlöschen des habsburgischen Mannesstamms in D. 1740 herbeiführte, eine entscheidende Rolle zu spielen.

Die Erbin Karls VI., Maria Theresia, rechnete im Vertrauen auf ihres Vaters Verträge und auf die zur Gewohnheit gewordene Unterordnung des