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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Geschichte 1807-1809. Österreichs Erhebung).

welches durch rechtzeitigen Abfall von Preußen und Beitritt zum Rheinbund (11. Dez. 1806) sich den Königstitel und das Großherzogtum Warschau verdiente. Die ganze deutsche Nord- und Ostseeküste wurde der Kontinentalsperre unterworfen und damit der Handel der Seestädte völlig vernichtet.

Napoleon standen jetzt die militärischen und finanziellen Kräfte der deutschen Staaten zur unbedingtesten Verfügung. Die Rheinbundstruppen bluteten in Spanien, Italien und Polen für den Eroberer; in diesen Kämpfen teilte sich ihnen die kriegerische Tüchtigkeit der französischen Armee mit, aber der Ruhm ihrer Thaten wurde ihnen durch ihre Zersplitterung unter französische Befehlshaber entzogen, und ihre furchtbaren Verluste erschöpften die Menschenkraft ihrer Heimat. Napoleon forderte von seinen Vasallen wiederholt ansehnliche Kriegskosten und behielt sich auch in mehreren eroberten Gebieten vor ihrer Abtretung an die Rheinbundstaaten die Staatsdomänen vor, um seine Generale und Minister damit zu dotieren. Dennoch ließen sich angesehene Deutsche, wie Johannes v. Müller, von der gewaltigen Erscheinung des neuen Cäsar hinreißen; sie verzichteten auf ihre Nationalität, um in dem neuen Weltreich, das höhere Geistesbildung, freie Entwickelung aller Kräfte und eine vernünftige Staatswirtschaft in Aussicht stellte, zur Erfüllung dieser Zwecke mitzuwirken. In der That brachte Napoleons Herrschaft, die gleich einem eisernen Besen allen Kehricht der alten Zeit neben dem historisch Ehrwürdigen und Erhaltenswerten wegfegte, manche gesunde Neuerung mit sich. Nach französischem Vorbild wurde in den Rheinbundstaaten die Finanz- und Justizverwaltung vereinfacht und verbessert, die Militärverfassung reformiert, die alten ständischen Unterschiede beseitigt, der Besitz der Toten Hand, besonders der Klöster, eingezogen und dem freien Verkehr und höherer Kultur eröffnet, durch Aufhebung der Verkehrsschranken und Linderung des Zunftzwanges der Aufschwung der Gewerbe befördert.

Nur die sittlichen Kräfte des Volkes wurden nicht gehoben, vielmehr erstickt durch den rücksichtslosen Despotismus der Machthaber, durch die Korruption und die Frivolität der höhern Volksschichten, durch die schnöde Selbstsucht und sklavische Gesinnung aller. Mit triumphierender Freude wurden in Dresden, München und Stuttgart die erschütternden Schicksalsschläge, die Preußen vernichteten, aufgenommen. In Bayern verleugnete man seine deutsche Abstammung und rühmte sich der keltischen. Auf dem Erfurter Kongreß 1808 erschöpfte sich das "Parterre von Königen" in knechtischer Unterwürfigkeit gegen den allmächtigen, rohen Emporkömmling. Wie gedemütigt Preußen auch war, wie ängstlich es jeden Anlaß vermeiden mußte, der Napoleon zu seiner völligen Vernichtung Gelegenheit geboten hätte, vor der Schmach des Rheinbundes blieb es bewahrt, und unberührt durch Nachahmung der Franzosen durfte es seine nationale Wiedergeburt unternehmen, die, geleitet von großen, hochgesinnten Männern, wie Stein, Hardenberg, W. v. Humboldt, Schön, Niebuhr, Scharnhorst, Gneisenau, Grolman, York, Arndt, Fichte u. a., sich nicht bloß auf die Reform des Staats und seiner Institutionen, sondern auf eine sittliche Erneuerung des Volksgeistes, auf die Wiederbelebung und Vertiefung der alten preußischen Tugenden, der Vaterlandsliebe, der Tapferkeit, Arbeitsamkeit und Mäßigkeit, erstreckte. So tief der Fall Preußens gewesen war, so schwer der Druck des unversöhnlichen Siegers auf ihm lastete, ebenso gründlich und vollständig war auch die Heilung. Beschränkt auf die Hälfte seines Gebiets, gezwungen, sein stehendes Heer auf 42,000 Mann zu reduzieren ohne Geld, fortwährend mit dem Untergang bedroht, gestalteten die preußischen Staatsmänner Preußen zu einem modernen Staat um, der allen geistigen, sittlichen und materiellen Kräften freie Bethätigung gewährte und sie alle zu intensiver Wehrkraft zusammenfaßte.

Auch Österreich hatte im Preßburger Frieden die Freiheit selbständiger innerer Reformen behalten und unter dem Impuls eines freisinnigen und deutschpatriotischen Ministers wie Stadion, welcher den Staat in josephinischem Geist zu reorganisieren begann, einen überraschenden Aufschwung genommen. Erzherzog Karl schuf das Heer zu einem neuen, in Führung, Bewaffnung und patriotischer Gesinnung tüchtigen Ganzen um und brachte durch Errichtung einer Landmiliz das österreichische Heeresaufgebot auf die Höhe von 500,000 Streitern. Die Erinnerung an frühere glänzende Zeiten tauchte in Österreichs Volk und Heer auf, das Beispiel Spaniens, das sich mutig gegen die französische Tyrannei erhob, reizte zur Nacheiferung. Der alte Kaiserstaat, der einst Deutschlands Krone getragen, ergriff begeistert das Banner der deutschen Sache und stellte sich an die Spitze der deutschen Erhebung. Während in Tirol das Volk sich gegen die Fremdherrschaft empörte, rückte Erzherzog Karl 1809 von Böhmen aus in Bayern ein. Aber wiederum kam Napoleon den Österreichern in Süddeutschland zuvor. Die Österreicher waren noch nicht über den Lech vorgedrungen, als er schon auf dem rechten Rheinufer stand, die Rheinbundstruppen an sich zog und die zersplitterte österreichische Armee in einer Reihe blutiger Gefechte bei Regensburg (19.-23. April 1809) zum Rückzug nach Böhmen zwang. Am 13. Mai zog Napoleon zum zweitenmal siegreich in Wien ein. Allerdings erlitt er bei seinem Angriff auf die Österreicher nördlich von Wien bei Aspern (21. und 22. Mai) eine blutige Niederlage. Die gehoffte Erhebung Deutschlands blieb aber aus. Preußen wagte es nicht, seine Existenz durch eine Kriegserklärung aufs Spiel zu setzen; der Feuergeist Stein, der den König vielleicht trotz seiner berechtigten Bedenken zum Kampfe fortgerissen hätte, war auf Napoleons Befehl verbannt. Die vereinzelten Versuche Schills, des Herzogs Friedrich Wilhelm von Braunschweig und Dörnbergs, das deutsche Volk selbst zu einem Aufstand zu bewegen, blieben erfolglos. So war Österreich auf seine eignen Streitkräfte angewiesen, und diese erlagen, da Erzherzog Karl den Sieg von Aspern nicht zu benutzen verstand, 5. und 6. Juli in der mörderischen Schlacht bei Wagram der überlegenen Feldherrnkunst Napoleons. Österreich schloß 12. Juli den Waffenstillstand von Znaim und 14. Okt. den Wiener Frieden. Sein heldenmütiger Versuch kostete ihm Illyrien, Salzburg und Galizien; Tirol wurde dem Sieger preisgegeben. Kaiser Franz lenkte nun ganz in die Bahnen der alten Kabinettspolitik ein, welche der an die Spitze der Regierung berufene Graf Metternich mit kühler List und überlegener Schlauheit leitete. Durch die Vermählung der Kaiserstochter Marie Luise mit Napoleon schien sich Österreich den französischen Bundesgenossen anreihen zu wollen. Seine Finanzen waren so erschüttert, daß damals der Staatsbankrott ausbrach. Metternichs zuwartende Politik war also wohl begründet, um so mehr, da die Österreicher wohl Begeisterung, aber nicht die zähe, nachhaltige Opferfreudigkeit entwickeln konnten, welche ein Befreiungskampf erfordert hätte.