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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Geschichte 1849-1850. Aufstände in der Pfalz und in Baden).

lution und der Anarchie. Denn die Versammlung, in welcher das Verfahren des Königs den radikalen Elementen wieder das Übergewicht verschaffte, konnte sich nicht ohne weiteres von ihrem Rechtsboden, der Reichsverfassung, verdrängen lassen und mußte versuchen, die gefaßten Beschlüsse auch ohne und gegen den König von Preußen durchzuführen. Am 4. Mai forderte sie die gesamte Nation, Volk und Regierungen, auf, die beschlossene Verfassung des Deutschen Reichs zur Geltung zu bringen. Sie entfesselte damit eine Bewegung, deren sich die Republikaner und Revolutionäre mit ungeduldiger Begierde bemächtigten, und die der Versammlung selbst bald über den Kopf wuchs und ihre Auflösung herbeiführte.

Die Bewegung begann in der Pfalz, wo eine große Volksversammlung in Kaiserslautern 1. Mai der bayrischen Regierung den Gehorsam aufkündigte, weil sie die Reichsverfassung anzuerkennen sich weigerte, und einen Landesverteidigungsausschuß einsetzte; zu gleicher Zeit kam es in Dresden zu einem Aufstand, vor dem der König und seine Minister auf den Königstein flüchteten. Nach mehrtägigen Barrikadenkämpfen ward mit Hilfe preußischer Bataillone die Erhebung in Dresden 9. Mai unterdrückt. Indes trotz dieser Niederlage an Einer Stelle griff die Bewegung weiter und weiter: in Hessen, Baden, am Rhein, in Frankfurt, in Württemberg und Franken forderte man in stürmischen Volksversammlungen schleunigste Bewaffnung und Organisation zur Durchführung der Reichsverfassung. In mehreren rheinischen Städten kam es zu gewaltsamen Konflikten mit dem Militär und zu offener Gehorsamsverweigerung der eingezogenen Landwehr. Zum vollen Durchbruch aber kam die neue Revolution indem seit langem unterwühlten Baden, obwohl Großherzog und Regierung die Reichsverfassung mit zuerst und unumwunden anerkannt hatten. In Freiburg und Rastatt brachen die Soldaten 11. Mai in offene Meuterei aus und verbündeten sich mit den Bürgerwehren; eine Empörung der Garnison in Karlsruhe 14. Mai zwang den Großherzog mit den Behörden zur Flucht, und das ganze Land unterwarf sich nun dem republikanischen Landesausschuß, welcher 17. Mai mit der revolutionären Regierung der Pfalz ein Schutz u. Trutzbündnis abschloß. Die Bewegung verpflanzte sich schon in bedrohlicher Weise nach Württemberg.

Die Reichsgewalt war dem gegenüber ohnmächtig. Am 10. Mai hatte das Ministerium Gagern seine Entlassung genommen und der Reichsverweser 16. Mai ein neues durch ein Mitglied der äußersten Rechten, den preußischen Justizrat Grävell, gebildet, welches beim Parlament nicht den geringsten Einfluß hatte und daher die Auflösung der Versammlung beschleunigte. Diese selbst trug durch ihre radikalen Beschlüsse nach Kräften bei. Am 10. Mai nahm sie einen energischen Protest gegen Preußens "Reichsfriedensbruch" in Sachsen an; ein Beschluß vom 12. verlangte die Verpflichtung der gesamten bewaffneten Macht Deutschlands auf die Reichsverfassung. Am 14. Mai rief darauf die Berliner Regierung die preußischen Abgeordneten ab, am 21. folgte ihr Sachsen, am 23. Hannover, und am 20. zeigte der Rest der erbkaiserlichen Partei, 90 Mitglieder, Gagern an der Spitze, seinen Austritt an. Da sich inzwischen in der Nähe Frankfurts Truppenmassen zusammenzogen und die Anwesenheit in Stuttgart der Revolution in Württemberg möglicherweise zum Sieg verhalf, so beschloß das Parlament 30. Mai, seine nächste Sitzung 4. Juni in Stuttgart abzuhalten. Dort trat die Versammlung, noch 104 Mitglieder zählend (Rumpfparlament), 6. Juni unter Löwes Vorsitz wieder zusammen, setzte zum Zweck der Durchführung der Reichsverfassung eine Reichsregentschaft ein, welche aus fünf Mitgliedern, Raveaux, K. Vogt, H. Simon, Schüler und Becher, bestand, stellte 16. Juni die Bewegungen in Baden und der Pfalz unter den Schutz des Deutschen Reichs und forderte von der württembergischen Regierung Truppen zur Ausführung ihrer Beschlüsse. Der Minister Römer, in die Mitte gestellt zwischen eine hoffnungslose Revolution und die Pflichten gegen das eigne Land, lehnte dies Ansinnen ab, forderte von der Versammlung ihre Verlegung in einen andern Staat und verhinderte 18. Juni ihren Zusammentritt durch militärische Gewalt. Zu einer fernern Sitzung kam es nicht mehr, und so endete in kläglicher Ohnmacht die erste deutsche Nationalversammlung, auf welche das deutsche Volk die höchsten Hoffnungen gesetzt hatte. Obwohl nicht ohne Schuld an dem Scheitern ihres Werkes, lebte diese Versammlung, welche die besten Geister der Nation vereinigt hatte, dennoch als eine große und rühmliche Erinnerung im Volk fort, an welcher es sich während der nun folgenden Mißregierung trösten und erheben konnte; und auch ihre Arbeit war nicht vergeblich: die Reichsverfassung von 1849 blieb das Ideal der deutschen Einheitsbestrebungen und das Muster, auf das die Zukunft mit Glück zurückgreifen konnte.

Wiederherstellung des Bundestags.

Inzwischen war es den preußischen und Reichstruppen gelungen, den Aufruhr in der Pfalz und in Baden zu dämpfen, in letzterm Land allerdings nicht ohne blutige Kämpfe, in welchen sich aber die Überlegenheit der preußischen Armee bewährte. Als Friedrich Wilhelm IV. Sachsen durch seine in Dresden geleistete Hilfe gerettet hatte und sich anschickte, den bedrängten süddeutschen Fürsten Hilfe zu bringen, unternahm er es, früherer Verheißungen eingedenk, die Herstellung der deutschen Einheit unter Preußens Führung auf dem Weg freier Zustimmung der deutschen Regierungen, auch Österreichs, zu erreichen. Eine Proklamation an das Volk vom 15. Mai enthielt die Grundzüge der beabsichtigten preußischen Union: die zu vereinbarende Verfassung werde eine einheitliche Exekutive und freiheitliche Institutionen, gesichert durch eine gesetzgebende Volksvertretung, errichten; die Reichsverfassung sollte ihr zu Grunde gelegt, mit Österreich ein besonderes Bundesverhältnis vereinbart werden. Ein in diesem Sinn abgefaßter Entwurf war dem Dreikönigsbündnis zu Grunde gelegt, welches Preußen, Sachsen und Hannover 26. Mai auf ein Jahr abschlossen. Die erbkaiserliche Partei des Frankfurter Parlaments war geneigt, den Entwurf zu unterstützen; auf einer Versammlung zu Gotha (26. Juni) sprachen sich 130 von 148 Mitgliedern für die neue Verfassung aus. Bis zum September schlossen sich 21 deutsche Staaten dem Dreikönigsbündnis an, 5 andre zeigten sich geneigt. Nur Bayern und Württemberg weigerten sich entschieden, der preußischen Union beizutreten, und fanden hierbei jetzt einen mächtigen Rückhalt an Österreich, dessen Bedrängnis in Ungarn Friedrich Wilhelm nicht durch rasches Handeln ausgebeutet hatte, und das nun nach Unterdrückung der ungarischen Insurrektion mit russischer Hilfe sofort die Wiederherstellung des alten Bundestags in Angriff nahm. Ja, Preußen bahnte ihm selbst hierzu die Wege, indem es 30. Sept. 1849 mit Österreich das sogen. Interim schloß, einen Vertrag zur Einsetzung einer provisorischen Bundesgewalt, die durch je zwei Bevollmächtigte beider Staaten bis 1. Mai 1850 in Frankfurt ausgeübt werden sollte. In die Hand dieser Gewalt