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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Geschichte 1863-1864. Fürstentag. Die schleswig-holstein. Frage).

Dennoch erkannten die österreichischen und mittelstaatlichen Politiker, daß Preußen in Bismarck einen energischen, kühnen Staatsmann besaß, von dem man das Schlimmste befürchten mußte, und sie faßten daher den Plan, um Österreich seine Stellung an der Spitze Deutschlands zu retten und die Mittel- und Kleinstaaten vor einer preußischen Union zu bewahren, Preußen, solange es noch durch den Verfassungskonflikt gelähmt war, mit einer großdeutschen Bundesreform zuvorzukommen. Am 17. Aug. 1863 trat auf Österreichs Einladung der deutsche Fürstentag unter Vorsitz des Kaisers von Österreich in Frankfurt a. M. zur Beratung des von Schmerling verfaßten österreichischen Bundesreformprojekts zusammen. Was bisher den Männern des Volkes und den Kabinetten mißlungen war, sollte hier durch den persönlichen Meinungsaustausch der Fürsten zu stande gebracht werden; es schien unmöglich, daß eine so ungewöhnliche Versammlung, welche in der Nation hochgespannte Erwartungen erregte, resultatlos auseinander gehen konnte. In der That erschienen fast alle deutschen Fürsten und Vertreter der Freien Städte; aber es fehlte der König von Preußen, welcher selbst eine persönliche Einladung Franz Josephs im Bad Gastein (2. Aug.) ablehnend beantwortet hatte. Das österreichische Reformprojekt, welches den Fürsten in Frankfurt vorgelegt wurde, schlug vor, die Leitung der Bundesangelegenheiten mit erweiterter Befugnis einem Direktorium zu übertragen, welches aus dem Kaiser von Österreich, dem König von Preußen, dem von Bayern und zwei andern alternierenden Fürsten bestehen sollte; ihm zur Seite sollte die Bundesversammlung der Vertreter der Regierungen stehen und in beiden Verhandlungen Österreich zur formellen Leitung der Geschäfte den Vorsitz führen; alle drei Jahre würde eine aus 300 Mitgliedern der Landtage bestehende Bundesdelegiertenversammlung zur Beratung und Beschlußfassung über die ihr vorzulegenden Gesetzvorlagen zusammentreten und deren Beschlüsse dann einem Fürstenrat zu freier Verständigung unterbreitet werden. Auch ein Bundesgericht war vorgeschlagen. In geheimen Sitzungen unter persönlicher Leitung des Kaisers Franz Joseph ward der Entwurf bis 1. Sept. durchberaten und in manchen Punkten verbessert; ein Krieg des Bundes zu gunsten eines Bundesstaats, welcher außerhalb des Bundesgebiets Besitzungen hat, sollte nur mit Zweidrittelmajorität beschlossen werden dürfen, besagte die endgültige Fassung und kam damit dem Interesse Österreichs schon weit genug entgegen.

Das Bundesreformprojekt wurde schließlich fast mit Stimmeneinheit angenommen, aber die Zustimmung Preußens trotz einer Kollektiveinladung des Fürstentags an König Wilhelm nicht erreicht. In einem Bericht des preußischen Ministeriums vom 15. Sept. unterwarf Bismarck die österreichische Bundesreform einer scharfen Kritik, in welcher schließlich nochmals betont wurde, daß eine Bürgschaft dafür, daß Preußen nicht fremden Interessen geopfert werde, nur in einer aus direkter Beteiligung der ganzen Nation hervorgegangenen Nationalvertretung liege, da die Interessen und Wünsche des preußischen Volkes wesentlich und unzertrennlich identisch mit denen des deutschen Volkes seien. Das war auch das Urteil des deutschen Abgeordnetentags, welcher, aus liberalen Mitgliedern der deutschen Landtage bestehend, sich gleichzeitig mit dem Fürstentag 21. und 22. Aug. in Frankfurt versammelte und bei aller Anerkennung der Tendenz des österreichischen Entwurfs denselben doch nicht für genügend erachten konnte. Aber eine Verständigung zwischen Bismarck und den Vertretern der Nation war unmöglich, solange der preußische Verfassungskonflikt nicht beendigt wurde, wozu bei der Hartnäckigkeit beider Teile keine Aussicht war. So war das Verdienst Preußens nur ein negatives; es hatte die österreichische Bundesreform verhindert, die nur ein Scheinwesen geschaffen hätte, und durch seinen erfolgreichen Widerspruch von neuem klar dargelegt, daß die deutsche Frage im Grund eine Machtfrage zwischen Österreich und Preußen war. Seine eignen positiven Vorschläge wurden aber von der Nation nicht ernst genommen, und die Entfremdung zwischen der preußischen Regierung und den eifrigsten Vertretern der deutschen Einheitsidee wurde durch die schleswig-holsteinische Frage vergrößert, die Ende 1863 durch den Tod des dänischen Königs Friedrich VII. wieder brennend wurde.

Die schleswig-holsteinische Frage und der deutsche Entscheidungskampf.

In Dänemark hatte die eiderdänische Partei eben (13. Nov. 1863) eine neue Verfassung zu stande gebracht, welche Holstein und Lauenburg ihre Selbständigkeit ließ, Schleswig aber völlig in den dänischen Staat einverleibte, und damit sowohl die alten Rechte auf die Vereinigung der Herzogtümer als die völkerrechtlichen Verpflichtungen Dänemarks verletzt, als der Tod des Königs Friedrich VII. (15. Nov.) den Prinzen von Glücksburg, Christian IX., auf Grund des Londoner Protokolls von 1852 auf den Thron rief. Da dieser sich vom Kopenhagener Pöbel zur Bestätigung der Gesamtstaatsverfassung bewegen ließ, so weigerten sich die Stände und Einwohner der Herzogtümer, ihn als Landesherrn anzuerkennen, und proklamierten den Prinzen Friedrich von Augustenburg als ihren Herzog, dessen Thronfolge zugleich die ersehnte Trennung von Dänemark herbeiführte. Auch in D. erklärte sich die öffentliche Stimme allgemein für ihn; mehrere Volksvertretungen drangen auf seine Anerkennung, Sachsen beantragte 28. Nov. beim Bundestag die Lossagung vom Londoner Protokoll, welches der Bund übrigens niemals anerkannt hatte, und 21. Dez. versammelten sich in Frankfurt 500 Abgeordnete aus allen Parteien, klein- und großdeutsche, sprachen sich für die gänzliche Trennung der Herzogtümer von Dänemark durch Anerkennung Friedrichs VIII. aus und setzten den Sechsunddreißiger-Ausschuß ein, um mit allen Mitteln hierfür zu agitieren. Indes die beiden Vormächte Österreich und Preußen schlossen sich dieser Bewegung nicht an, weil sie an das Londoner Protokoll gebunden waren und die Mächte, namentlich England, nicht zur Unterstützung Dänemarks zwingen wollten. Sie beharrten dabei, daß man sich mit dem Einspruch gegen die Novemberverfassung und mit der auf Grund desselben schon 1. Okt. 1863 beschlossenen Bundesexekution begnügen müsse. Sie setzten auch ihren Willen 7. Dez. beim Bunde durch, und Ende Dezember rückten sächsische und hannöversche Truppen in Holstein ein, welches die Dänen ohne Widerstand räumten. Als sich jedoch 14. Jan. 1864 der Bund weigerte, sich dem Standpunkt der Großmächte anzuschließen und bloß die Aufhebung der Novemberverfassung von Dänemark zu fordern, erklärten Österreich und Preußen, daß sie fortan die Geltendmachung der deutschen Rechte in ihre eigne Hand nähmen. Trotz des Protestes der Bundestagsmajorität richteten sie Ende Januar an Dänemark die Aufforderung, die Novemberverfassung für Schleswig außer Kraft zu setzen, und als dieselbe erfolglos blieb, ließen sie ohne Verständigung mit den Bundesexekutionskommissaren ihre Truppen in Holstein einrücken und 1. Febr. die schleswigsche Grenze überschreiten.