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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Geschichte 1870. Deutsch-französischer Krieg).

In der That sammelten 1869 und 1870 alle Gegner der Entwickelung von 1866 im Süden noch einmal ihre Kräfte, um den nationalen Bestrebungen, die auch in den Regierungen Bayerns und Württembergs zum Durchbruch kamen, den Boden zu entziehen. Bei den Neuwahlen für das bayrische Abgeordnetenhaus 22. Mai 1869 errangen die mit Partikularisten und Demokraten verbündeten Ultramontanen die Majorität (79 gegen 75 Stimmen), und als wegen des fast gleichen Stimmenverhältnisses beim Zusammentritt der Kammer im September keine Präsidentenwahl zu stande kam und dieselbe aufgelöst wurde, behaupteten die Ultramontanen bei der Neuwahl mit 80 gegen 74 Stimmen den Sieg. Unter diesen Umständen mußte der national gesinnte liberale Ministerpräsident Fürst Hohenlohe weichen, und der partikularistische Graf Bray trat 7. März 1870 an seine Stelle; von ihm war keine weitere Annäherung an den Norden zu erwarten. Noch heftiger gebärdete sich die antinationale Volkspartei in Württemberg, die im Bund mit Ultramontanen und Partikularisten die Majorität in der Kammer besaß. Sie zwang durch ihre Opposition gegen das von der Regierung vorgelegte Kriegsdienstgesetz, gegen welches sie eine Petition mit 150,000 Unterschriften zusammenbrachte, den Kriegsminister Wagner zum Rücktritt (März 1870). Wenn auch die Rekonstruktion des Ministeriums nicht nach ihren Wünschen ausfiel, so konnte doch von einem Anschluß Württembergs an den Norddeutschen Bund jetzt nicht die Rede sein. Auch in den neuen preußischen Provinzen machten sich rückläufige Bewegungen geltend. Noch bestand die Welfenlegion, welche Hannover für Georg V. wiedererobern sollte. Die der preußischen protestantischen Hegemonie über D. besonders abgeneigte ultramontane, von den Jesuiten geleitete Partei erprobte gerade damals auf dem vatikanischen Konzil ihre Macht über die Kirche und die katholische Christenheit, und der glückliche Erfolg des Unfehlbarkeitsdogmas mußte sie ermutigen, nun offener nach ihrem letzten Ziel, der Weltherrschaft, zu streben. Angefeuert durch diesen Bundesgenossen, durch die Preußen feindseligen Strömungen in D. und Beusts Rachegelüste, glaubte die französische Regierung den Augenblick gekommen, da es Revanche für Sadowa nehmen, Frankreichs "berechtigtes Übergewicht" in Europa durch Zertrümmerung der deutschen Einheit und Eroberungen am Rhein wiederherstellen und durch die kriegerische Aufregung und den Ruhm der Waffen sich selbst aus der bedrängten innern Situation befreien könnte.

Die Wiederherstellung des Deutschen Reichs.

Die ohne Mitwissen der norddeutschen Bundesregierung aufgestellte spanische Thronkandidatur des Erbprinzen Leopold von Hohenzollern diente Napoleon III. zum Vorwand, um den Krieg, welchen er wegen mangelhafter Vorbereitung der französischen Armee weder 1866 noch 1867 hatte wagen können, nun, nach Vollendung der Nielschen Heeresreorganisation, zu unternehmen. Nachdem die Kammer, die Presse und die öffentliche Meinung durch chauvinistische Agitationen aufgereizt worden waren, genügte der Verzicht des Prinzen Leopold auf den spanischen Thron nicht mehr, um die fieberhaft erregten Gemüter zu befriedigen; das französische Ministerium stellte an König Wilhelm 13. Juli 1870 das ganz unberechtigte Ansinnen, daß er sich schriftlich verpflichte, nie wieder eine Erneuerung der hohenzollernschen Kandidatur zu gestatten, und als dasselbe abgelehnt wurde, erklärte es 19. Juli den Krieg (s. Deutsch-französischer Krieg).

Diese freche Herausforderung des alten Erbfeindes, der besonders im Süden beim Volk verhaßt war, entzündete auf einmal einen leidenschaftlichen Zorn und einen begeisterten Enthusiasmus in D.; die ganze Nation war eins in diesen Gefühlen, welche sich bald in feste Entschlossenheit und aufopferungsvolle, hingebende Vaterlandsliebe abklärten. Den sofort zusammenberufenen norddeutschen Reichstag eröffnete der König Wilhelm 19. Juli mit einer des erhabenen Augenblicks würdigen Thronrede: "Hat D.", sagte er, "derartige Vergewaltigungen seines Rechts und seiner Ehre in frühern Jahrhunderten schweigend ertragen, so ertrug es sie nur, weil es in seiner Zerrissenheit nicht wußte, wie stark es war. Heute, wo das Band geistiger und rechtlicher Einigung, welches die Befreiungskriege zu knüpfen begonnen, die deutschen Stämme je länger, desto inniger verbindet, heute, wo Deutschlands Rüstung dem Feind keine Öffnung mehr bietet, trägt D. in sich selbst den Willen und die Kraft der Abwehr erneuter französischer Gewaltthat. Wir werden nach dem Beispiel unsrer Väter für unsre Freiheit und für unser Recht gegen die Gewaltthat fremder Eroberer kämpfen, und in diesem Kampf, in dem wir kein andres Ziel verfolgen, als den Frieden Europas dauernd zu sichern, wird Gott mit uns sein, wie er mit unsern Vätern war." Der Reichstag beantwortete diese Worte mit einer begeistert zustimmenden Adresse und der einstimmigen Bewilligung der geforderten Kriegsanleihe von 120 Mill. Thlr. und verlängerte seine eigne Legislaturperiode bis Ende des Jahrs, worauf er 21. Juli geschlossen wurde.

Die süddeutschen Fürsten ließen sofort in Berlin erklären, daß sie den casus foederis für eingetreten erachteten und demgemäß ihre sämtlichen Streitkräfte dem Oberbefehl des Königs von Preußen unterstellten. Die süddeutschen Kammern folgten. Die hessische, badische und auch die württembergische bewilligten die geforderten Rüstungsgelder mit Einstimmigkeit, die bayrische Zweite Kammer mit 101 gegen 47 Stimmen. Nur die verbissenen Ultramontanen verteidigten aus Haß gegen Preußen eine bewaffnete Neutralität; selbst solche Bayern, welche eifersüchtig die Selbständigkeit ihrer engern Heimat wahrten, erkannten, daß dieselbe nur dadurch zu erhalten sei, daß Bayern freiwillig seine deutsche Pflicht erfülle. Die süddeutschen Kontingente wurden mit drei preußischen Armeekorps zur dritten deutschen Armee unter dem Befehl des Kronprinzen von Preußen vereinigt, während die erste und zweite Armee aus norddeutschen Truppen bestanden. So war die Kriegsmacht des ganzen deutschen Volkes zum erstenmal nach Jahrhunderten wieder vereinigt, und ihre glänzenden Siege bewiesen, welche gewaltige Kraft ihr innewohnte, wenn sie gut vorbereitet und gut geführt war. In den Schlachten von Wörth und Spichern, in dem blutigen Ringen an den drei Kampfestagen vor Metz, endlich bei Sedan wetteiferten die deutschen Truppen an Tapferkeit und Todesmut. Dieselben Truppen, welche 1866 am Main so wenig geleistet, thaten es jetzt den besten preußischen Regimentern gleich. Deutsches Gebiet, welches in frühern Kriegen mit dem französischen Nachbar stets Kriegsschauplatz gewesen und immer wieder arg verwüstet worden war, wurde diesmal nur in Saarbrücken auf kurze Zeit vom Feind betreten. Schon einen Monat nach Beginn der Feindseligkeiten war eine große Armee der Franzosen kriegsgefangen, eine zweite in Metz eingeschlossen und die deutschen Heere tief im Innern Frankreichs auf dem Marsch nach Paris.