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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Geschichte 1871. Frankfurter Friede. Der erste deutsche Reichstag).

den Wir und Unsre Nachkommen an der Krone Preußen fortan den kaiserlichen Titel in allen Unsern Beziehungen und Angelegenheiten des Deutschen Reichs führen und hoffen zu Gott, daß es der deutschen Nation gegeben sein werde, unter dem Wahrzeichen ihrer alten Herrlichkeit das Vaterland einer segensreichen Zukunft entgegenzuführen. Wir übernehmen die kaiserliche Würde in dem Bewußtsein der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reichs und seiner Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft seines Volkes, zu verteidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß dem deutschen Volk vergönnt sein wird, den Lohn seiner heißen und opfermutigen Kämpfe in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem Vaterland die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe Frankreichs gewähren. Uns aber und Unsern Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allezeit Mehrer des Reichs zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiet nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung." Am 18. Januar 1871, 170 Jahre nach der Krönung des ersten preußischen Königs, geschah im Spiegelsaal des französischen Königsschlosses zu Versailles die feierliche Verkündung der Annahme der Kaiserkrone und der Herstellung des Deutschen Reichs in Gegenwart einer glänzenden Versammlung von Fürsten, Prinzen und Kriegshelden, und am 19. Januar gab der Donner der Kanonen in der siegreichen Schlacht am Mont Valérien dazu die Weihe.

Der Kaiserproklamation folgte unmittelbar die Kapitulation von Paris und damit das Ende des unvergleichlichen Kriegs. Die Versailler Friedenspräliminarien (26. Febr.) gaben D. Elsaß mit Straßburg und Deutsch-Lothringen mit Metz zurück und verschafften ihm eine Kriegsentschädigung von 5 Milliarden Frank. Wohl erregte dieser glänzende Erfolg den Neid der andern Mächte, und namentlich England hatte wiederholt zu gunsten Frankreichs zu intervenieren gesucht. Indes seine schwächliche Neutralität bei Ausbruch des Kriegs und die illoyale Unterstützung der französischen Republik durch Zuführung von englischen Waffen und sonstigem Kriegsmaterial hatten es alles Anspruchs auf Berücksichtigung beraubt, und seine Intervention wurde zurückgewiesen. Dem Kaiser von Österreich zeigte Bismarck 14. Dez. 1870 die Neugestaltung der Dinge in D. an und betonte den Wunsch des neuen Reichs, zu dem durch gemeinschaftliche wichtige Interessen verbundenen Nachbarreich freundschaftliche Beziehungen zu pflegen, welchen Wunsch Beust 26. Dez. ebenso verbindlich erwiderte. Das treue Wohlwollen des russischen Kaisers, welches D. manche Verwickelungen, besonders im ersten Teil des Kriegs, erspart hatte, vergalt die deutsche Regierung durch Unterstützung des russischen Verlangens, von einigen drückenden Bestimmungen des Pariser Friedens von 1856 befreit zu werden, was die Pontuskonferenz in London 13. März 1871 zugestand. Auch Italien hatte Nutzen von den deutschen Siegen gezogen, indem es, von Frankreich nicht mehr gehindert, im Sept. 1870 den Rest des Kirchenstaats sich einverleiben und darauf (im Januar 1871) Rom zur Hauptstadt erheben durfte. Der definitive Friede zwischen Deutschland und Frankreich wurde 10. Mai zu Frankfurt a. M. abgeschlossen.

Am 21. März 1871 ward in Berlin der erste deutsche Reichstag eröffnet. Die Wahlen (3. März) waren gut national ausgefallen; doch zählte man unter den 382 Abgeordneten 60 Ultramontane, welche den Kern aller Oppositionselemente bildeten. Die Thronrede des Kaisers Wilhelm I., der am 17. März nach Berlin zurückgekehrt war, konnte mit Stolz und Genugthuung verkünden: "Wir haben erreicht, was seit der Zeit unsrer Väter für D. erstrebt wurde: die Einheit und deren organische Gestaltung, die Sicherung unsrer Grenzen, die Unabhängigkeit unsrer nationalen Rechtsentwickelung, und der Geist, welcher in dem deutschen Volk lebt und seine Bildung und Gesittung durchdringt, nicht minder die Verfassung des Reichs und seine Heereseinrichtungen bewahren D. inmitten seiner Erfolge vor jeder Versuchung zum Mißbrauch seiner durch seine Einigung gewonnenen Kraft. Das neue D., wie es aus der Feuerprobe des gegenwärtigen Kriegs hervorgegangen ist, wird ein zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens sein, weil es stark und selbstbewußt genug ist, um sich die Ordnung seiner eignen Angelegenheiten als sein ausschließliches, aber auch ausreichendes und zufriedenstellendes Erbteil zu bewahren. Möge die Wiederherstellung des Deutschen Reichs für die deutsche Nation auch nach innen das Wahrzeichen neuer Größe sein, möge dem deutschen Reichskrieg, den wir so ruhmreich geführt, ein nicht minder glorreicher Reichsfriede folgen, und möge die Aufgabe des deutschen Volkes fortan darin beschlossen sein, sich in dem Wettkampf um die Güter des Friedens als Sieger zu erweisen." Bei der Adreßdebatte machte sich schon die Opposition der neuen katholischen Zentrumspartei geltend, welche ihre Hoffnung, den Einfluß der siegreichen neuen Macht für den Papst und die Wiederherstellung seiner weltlichen Herrschaft geltend zu machen, getäuscht sah. Ebenso wurde ihr Versuch, gewisse kirchliche Grundrechte in die Reichsverfassung einzuschieben, vereitelt. Diese Verfassung, eine Revision der norddeutschen Bundesverfassung, ward ohne lange Debatten 14. April 1871 mit allen gegen sieben Stimmen angenommen. Sie erhöhte die Zahl der Mitglieder und Stimmen des Bundesrats, der nun aus den Bevollmächtigten von 25 Staaten bestand, von 43 auf 58. Die Rechte des Bundespräsidiums wurden in einigen Punkten beschränkt: bei Erklärung von Bundeskriegen war Zustimmung des Bundesrats erforderlich, außer im Fall erfolgten Angriffs auf Bundesgebiet, und ebenso war dem Bundesrat der Beschluß, ob Bundesexekution einzutreten habe, vorbehalten. Elsaß-Lothringen wurde Reichsland, d. h. gemeinsamer Besitz des Reichs.

So war das neue Deutsche Reich begründet. Wohl kam es dem alten, 1806 zu Grunde gegangenen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation an Umfang und Machtansprüchen nicht gleich: der neue Kaiser trug nicht die älteste und erhabenste Krone der Christenheit, er war nicht Oberlehnsherr der deutschen Reichsfürsten und beanspruchte nicht die Oberhoheit über große Nachbarlande. Die politische Verbindung mit den österreichischen Landen war gelöst, Luxemburg aufgegeben. Dafür aber waren Schleswig und Elsaß-Lothringen neu gewonnen, und was das Reich an äußerm Glanz und Ausdehnung verlor, das ersetzte es durch innere Einheit und Kraft. Unter der gesetzlich geordneten, von einem Staat wie Preußen getragenen Reichsgewalt, unter einer erblichen Dynastie, welche eine große, aber rein deutsche Hausmacht besaß, konnte das deutsche Volk nun eine einheitliche Kulturarbeit beginnen. Nach außen war es durch seine Militärmacht gesichert, im Innern konnten die Territorialgewalten der Reichseinheit und dem Wohl des Ganzen nicht mehr gefährlich werden und in dem ihnen überlassenen Bereich durch frucht-^[folgende Seite]