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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Geschichte 1877-1878).

glieder herabsanken, die Fortschrittspartei aber auch 3 Sitze verlor. Die vereinigten liberalen Parteien hatten nun nur noch 175 Stimmen, also nicht mehr die Majorität im Reichstag. Die Beratungen desselben begannen 22. Febr. 1877 und beschränkten sich auf das Budget für 1877/78, auf das Gesetz über die Errichtung des Reichsgerichts in Leipzig und eines Patentamtes zur Handhabung des ebenfalls beantragten Patentgesetzes. Die Vorschläge der Regierung wurden genehmigt.

Der Reichskanzler, der Ende März seiner erschütterten Gesundheit wegen ein Entlassungsgesuch eingereicht und nach dessen Ablehnung durch den Kaiser einen unbestimmten Urlaub erhalten hatte, blieb das ganze Jahr 1877 von Berlin entfernt in Friedrichsruh oder Varzin. Doch beschäftigte er sich eifrig mit der Steuerreform und faßte den Plan, zu diesem Behuf mit den Nationalliberalen ein Bündnis zu schließen, das ihm eine feste Majorität im Reichstag sichern sollte. Er hatte zu diesem Zweck Weihnachten 1877 in Varzin mit Bennigsen längere Besprechungen, die aber nicht zu dem gewünschten Ergebnis führten. Denn Bennigsen wollte nur zusammen mit zwei andern Führern der Partei, Forckenbeck und Stauffenberg, in das Ministerium treten, und ferner bestand die Mehrheit der Nationalliberalen auf konstitutionellen Garantien dafür, daß die Mehrerträge aus der Reform der indirekten Steuern zur Herabminderung der Steuern in den Einzelstaaten verwendet würden. Beides konnte Bismarck nicht bewilligen. Als nun der Reichstag 6. Febr. 1878 wieder eröffnet wurde, legte die Reichsregierung statt einer umfassenden Steuerreform nur zwei Gesetzentwürfe über die Übertragung des Spielkartenstempels und andrer Stempelabgaben auf das Reich sowie über eine Erhöhung der Tabaksteuer vor. Die letztere wurde 22. Febr. von Stauffenberg in scharfer Weise angegriffen und der preußische Finanzminister Camphausen mit so bittern Vorwürfen überschüttet, daß er seine Entlassung nahm. Bismarck war damit nicht unzufrieden, da er Camphausens Finanzsystem für unfruchtbar, ja schädlich hielt. Dagegen reizte ihn empfindlich die unnötig heftige Opposition der Liberalen gegen das Tabaksmonopol, welches er als sein Ziel bezeichnet hatte. Anstatt der gewünschten Tabaksteuererhöhung beschloß der Reichstag eine Tabaksteuerenquete und knüpfte die Bewilligung der hierfür geforderten Mittel an die Bedingung, daß ein Tabaksmonopol nicht beabsichtigt und ein umfassender Steuerreformplan ausgearbeitet werde. Da seine Krankheit noch nicht beseitigt war, so zog sich Bismarck im März auf das Land zurück, nachdem seine Stellvertretung durch ein besonderes Gesetz geordnet und dieselbe im allgemeinen dem Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums, Grafen Stolberg-Wernigerode, übertragen worden war.

Da unternahm 11. Mai 1878 der Leipziger Klempnergeselle Max Hödel einen glücklicherweise erfolglosen Mordversuch auf den Kaiser, als derselbe die Berliner Linden entlang fuhr. Derselbe warf ein erschreckendes Licht auf die sittliche Verwilderung eines Teils der Nation und auf die Gefahren der sozialdemokratischen Wühlerei, deren furchtbares Anschwellen schon die Reichstagswahlen von 1877 gezeigt hatten. Die Regierung hielt es für ihre Pflicht, weitern Ausschreitungen durch ein Gesetz (Sozialistengesetz) vorzubeugen, welches auf drei Jahre die Verfolgung sozialdemokratischer Ziele gewissen Ausnahmemaßregeln unterwarf. Sie legte den Entwurf 21. Mai dem Reichstag vor, aber schon 24. Mai lehnte die liberale und ultramontane Mehrheit denselben ab, indem sie die Regierung darauf hinwies, erst die ihr zu Gebote stehenden Mittel der Repression besser auszunutzen. Indes die Ereignisse gaben der Mehrheit unrecht: 2. Juni erfolgte das zweite Attentat Karl Nobilings auf den Kaiser, durch welches derselbe schwer verwundet wurde, so daß er 4. Juni dem Kronprinzen seine Stellvertretung übertragen mußte. Unter dem Eindruck des schrecklichen Ereignisses setzte Bismarck 12. Juni im Bundesrat die Auflösung des Reichstags und die Anberaumung der Neuwahlen auf 30. Juli durch. Er war besonders zornig auf die liberalen Parteien, sowohl auf die Fortschrittspartei, welcher er den Namen einer Ordnungspartei geradezu absprach, und die er fast der Sozialdemokratie gleichstellte, als auf die Nationalliberalen, die er beschuldigte, ihn im Stiche gelassen zu haben, und ließ durch die Beamten wie durch die Regierungspresse beide Parteien aufs heftigste bekämpfen, während Ultramontane und Partikularisten unbehelligt blieben. Das Ergebnis der Wahlen vom 30. Juli war daher zwar, daß die Liberalen fast 40 Sitze verloren und die Fortschrittspartei auf 24, die Nationalliberalen auf 101 Mitglieder sich verringerten, während die Konservativen und die Reichspartei auf je 57 Mitglieder stiegen. Dagegen wuchs das Zentrum auf 93 Mitglieder nebst 9 welfischen Hospitanten, und die Sozialdemokraten behaupteten 9 Wahlkreise. Eine konservative Mehrheit hatte also der Reichskanzler nicht erlangt, und da die Ultramontanen sich im Wahlkampf, um Stimmen zu erobern, unbedingt gegen alle Ausnahmegesetze verpflichtet hatten, so mußte er sich, um das von neuem vorgelegte Sozialistengesetz genehmigt zu erhalten, in der am 9. Sept. eröffneten außerordentlichen Reichstagssession mit den Nationalliberalen verständigen und manche Änderungen derselben an dem Gesetz zulassen. Dasselbe wurde 19. Okt. mit 221 gegen 149 Stimmen auf 2½ Jahre (bis 31. März 1881) genehmigt, sofort veröffentlicht und zur Unterdrückung sozialdemokratischer Vereine und Zeitungen energisch angewendet. Der inzwischen genesene Kaiser kehrte 5. Dez. nach Berlin zurück und übernahm wieder die Regierungsgeschäfte.

Ein erfreulicheres Bild als die innern Zustände Deutschlands bot seine äußere Lage dar. Ja, während der Kaiser an seinen Wunden schwer daniederlag, während die Wahlkämpfe tobten, war die Reichshauptstadt Berlin zum erstenmal der Sitz eines Kongresses der bedeutendsten europäischen Staatsmänner. Dieser Berliner Kongreß war zur Regelung der orientalischen Frage berufen worden. Die Hetzereien panslawistischer Agitatoren hatten auf der Balkanhalbinsel von neuem Aufstände und kriegerische Verwickelungen hervorgerufen, welche Rußland zum Anlaß genommen hatte, als Protektor der slawischen Christen der Türkei 1877 den Krieg zu erklären. Der Reichskanzler hatte sich vergeblich bemüht, den Ausbruch desselben zu verhindern. Nachdem er ausgebrochen, strebte er vor allem danach, ihn auf die Balkanhalbinsel zu beschränken und ihn nicht zu einem europäischen Krieg werden zu lassen. Er setzte allen seinen Einfluß daran, Österreich von einer Einmischung abzuhalten, und beobachtete selbst die strengste Neutralität. Als nun aber Rußland entgegen seinen Versprechungen durch den Frieden von San Stefano die englischen und die österreichischen Interessen im Orient auf das empfindlichste verletzte und besonders England dagegen den entschiedensten Einspruch erhob, fühlte sich Bismarck veranlaßt, die Vermittelung der