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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: England

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England (Kanäle, Armenwesen, Rechtspflege).

Einmischung enthielt und den Bau ausschließlich Privatgesellschaften überließ. Im J. 1859 hatten die Eisenbahnen von E. und Wales eine Länge von 11,762 km, 1873 von 18,296 km, 1884 von 21,468 km, deren Bau und Ausrüstung 665 Mill. Pfd. Sterl. gekostet haben. 621 Mill. Reisende (ohne die Inhaber von Saisonbillets) und 220 Mill. Ton. Güter wurden befördert, die Betriebskosten beliefen sich bei einer Bruttoeinnahme von 60 Mill. Pfd. Sterl. auf 31,7 Mill. Pfd. Sterl. Für die Herstellung von Landstraßen wurde bereits 1555 durch ein Gesetz gesorgt, welches den Lokalbehörden die Pflicht auferlegte, für die Instandhaltung der innerhalb ihres Gebiets gelegenen Straßen zu sorgen. Thatsächlich gilt dieses Gesetz noch heute, und die Gemeindevorstände haben seit 1835 das Recht, für Instandhaltung der Wege eine Steuer zu erheben. Außer diesen eigentlichen Gemeindewegen gibt es jedoch noch zahlreiche von Privatunternehmern gebaute sogen. Schlagbaumwege (turnpike-roads), von welchen indes viele in den Gemeindebesitz übergegangen sind. Insgesamt hatten die außerhalb der Städte gelegenen Landstraßen 1884 eine Länge von 190,180 km.

Die schiffbaren Flüsse sind bereits erwähnt worden. An Kanälen ist zwar das Land nicht arm, und mehrfach kreuzen sie das ganze Land und setzen die Nordsee mit dem Irischen Meer in Verbindung; die Kanäle haben indes aufgehört, dem Handel die erwarteten Dienste zu leisten, seitdem ein großer Teil derselben in den Besitz von Eisenbahngesellschaften übergegangen ist, durch welche jede Konkurrenz ausgeschlossen wurde. Eine Parlamentsakte vom Jahr 1873 bestimmte daher, daß Verträge zwischen Kanal- und Eisenbahngesellschaften nur dann gebilligt werden sollen, wenn sie nichts enthalten, was dem öffentlichen Interesse zuwiderläuft. Auch sollen die Eisenbahngesellschaften gezwungen werden, die in ihrem Besitz befindlichen Kanäle in brauchbarem Zustand zu erhalten. Die Gesamtlänge der Kanäle beträgt 4023 km. Ein großartiger Schiffahrtskanal von Liverpool nach Manchester, auch für große Seeschiffe zugänglich, ist im Bau begriffen. Weiteres über Handel, Reederei, Post- und Telegraphenwesen s. Großbritannien.

Armenwesen.

In E. besteht ein Armengesetz seit 1661, und das Armenwesen wurde 1834 in seiner gegenwärtigen Gestalt geregelt. Jedes Kirchspiel ist verpflichtet, seine Armen zu erhalten. Von den Friedensrichtern ernannte Overseers (Aufseher) sorgen für Eintreibung der Armensteuer; die Verwaltung liegt in den Händen von Guardians (Armenpflegern), welche von den Steuerzahlenden gewählt werden, und zu welchen die Friedensrichter ex officio gehören. Als Regel werden mehrere Kirchspiele zu einem Armenbezirk vereinigt (Poorlaw Union), welche gemeinschaftlich ein Armenhaus (workhouse), eine Armenschule und ein Krankenhaus unterhalten. Solcher "Unions" gibt es 647. Die Zahl der Armen wechselt ungemein, je nach den Jahren. Sie finden teilweise Aufnahme in die Armenhäuser (indoor relief), teils erhalten sie Unterstützung außerhalb (outdoor relief). Durchschnittlich war die Zahl der "Armen" 1880: 808,030, 1884: 765,914. Darunter waren arbeitsfähig bez. 115,785 und 94,377. Die Ausgaben für das Armenwesen beliefen sich 1880 auf 8,0 Mill. Pfd. Sterl., 1884 auf 8,4 Mill. Pfd. Sterl. Auf je 10,000 Bewohner kamen Arme 1875: 336, 1880: 319, 1884 nur 286. Am Tag der Volkszählung (1881) befanden sich 179,620 Menschen in Armenhäusern, 24,087 in Krankenhäusern, 54,617 in Irrenanstalten, 27,889 in Gefängnissen und 16,856 in Anstalten für jugendliche Verbrecher. Damit ist jedoch keineswegs die Armut des Landes erschöpft, da die Mildthätigkeit der Privaten für viele sorgt, welche sonst dem Gemeinwesen zur Last fallen wurden.

Rechtspflege.

Man unterscheidet in E. zwischen gemeinem Recht (Common Law) und dem statutarisch vom Parlament erlassenen Statute Law. Bei Auslegung des Gesetzes werden die Rechtssprüche der Richter, wie sie in den Akten der Gerichtshöfe mit Archivrecht (Courts of record) niedergelegt sind, als maßgebend betrachtet. Nur in den ekklesiastischen und Admiralitätsgerichten kommt teilweise das römische und kanonische Recht zur Anwendung. Die Rechtspflege (auch bei Voruntersuchungen) ist stets öffentlich. Es steht jedem frei, seine Angelegenheiten vor Gericht persönlich vorzutragen; gewöhnlich aber geschieht dies durch Advokaten (counsel, barrister) oder Anwalte (attorney, solicitor). Vier alte Korporationen besitzen das Recht, Personen "zur Barre" zu rufen (s. Barrister). Eine Anzahl der Advokaten wird zu Queen's Counsels ernannt, aus deren Mitte die Richter hervorgehen. Attorneys gehen bei einem Rechtspraktikanten in die Lehre und werden, nachdem sie von der Incorporated Law Society geprüft sind, durch einen Richter des obersten Gerichtshofs vereidigt. Die Privatklage ist in allen Fällen zulässig, und nur bei Kriminalvergehen und in Ausnahmefällen tritt die Krone als Kläger auf und läßt sich durch einen Queen's Counsel vertreten. Kriminalfälle, wenn es der Angeklagte verlangt, politische und Preßvergehen werden stets mit Zuziehung von Geschwornen entschieden. Die Richter werden auf Lebenszeit ernannt und können nur wegen schlechten Betragens entlassen werden. Der oberste Gerichtshof des vereinigten Königreichs ist das Haus der Lords, in welchem der Lordkanzler den Vorsitz führt, und in welchem Peers, die ehemals Richter waren oder es noch sind, Sitz und Stimme haben. Seine Gerichtsbarkeit ist indes jetzt eine sehr beschränkte. Ein Ausschuß des Geheimen Rats für Gerichtsbarkeit (Judicial Committee of the Privy Council), dem zwei Richter zugeordnet sind, hört Appellationen von den Gerichtshöfen der Kolonien. Den obersten Gerichtshof von E. und Wales bildet der 1873 errichtete Supreme Court of Judicature, welcher aus einem obersten Gerichtshof (High Court of Justice) und einem Appellationsgericht (Court of Appeal) besteht. Ersterer besteht aus einer Chancery division (Erbschaftsteilungen, Vormundschaftssachen u. dgl.), einer Queen's Bench division (für Kriminal- und Zivilsachen, welche nach dem gemeinen Recht entschieden werden, indem der Richter das Gesetz auslegt, Geschworne aber über Thatsachen entscheiden) und einer Probate, Divorce and Admiralty division, welche die Wirksamkeit der frühern Gerichte für Testaments-, Ehe- und Admiralitätssachen umfaßt. Ein Court of Arches hat die geistliche Gerichtsbarkeit. Für die Metropole besteht außerdem ein Zentralkriminalgericht (Old Bailey), in welchem der Recorder und Common Serjeant der City von London präsidieren. Jährlich zweimal machen Richter des obersten Gerichtshofs eine Rundreise (circuit) durch E. und halten kraft einer fünffachen Ermächtigung in 59 Städten des Landes Gerichtssitzungen ab. Diese Ermächtigung erstreckt sich 1) auf Streitigkeiten wegen liegenden Eigentums (assize), 2) auf Fälle, welche vor den obersten Gerichtshof in London gehören, falls nicht zuvor einer der Richter in die