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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Englische Litteratur

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Englische Litteratur (von Chaucer bis zum Reformationszeitalter).

predigt, die, eine weitschichtig angelegte Allegorie und reich an Satire, der Menschheit den Weg "aus den Fesseln der Sünde, des Irrtums und des Todes" weisen soll.

Dem modischen Bemühen um die Umarbeitung französischer Romane huldigt noch Geoffrey Chaucer (1340-1400) in dem seiner Jugend angehörenden "Romaunt of the rose"; auch in die "Canterbury tales", das Werk, welches seinen Namen unsterblich gemacht hat, verwebt er manches Fabliau. Aber seine Berührung mit Italien erweiterte seinen Gesichtskreis und führte ihn zur Behandlung völlig neuer Stoffe, zur Verwertung neuer Formen. Dadurch erhob er sich wie auch durch seine Sprache weit über die Zeitgenossen, ja über alle seine Nachfolger bis zur Zeit Elisabeths und rechtfertigt die Bezeichnung, die ihm seine Landsleute so gern geben, der "Morgenstern der englischen Litteratur". Chaucer selbst nahm an den Kämpfen gegen Frankreich teil; stürmischer noch gestalteten sich die politischen Verhältnisse nach seinem Tod, als innere Kriege England zerrütteten. Die Zeit der Rosenkriege war der Litteratur nicht günstig; Dichter wie John Gower, Chaucers Zeitgenosse, Thomas Occleve (gest. 1454), John Lydgate (gest. 1460), Audelay (gest. 1580), Stephen Hawes (gest. 1506) waren nicht im stande, fördernd auf dieselbe einzuwirken. Dafür fällt in diese Zeit die Blüte der volkstümlichen Ballade in Nordengland und Südschottland, die ihren Stoff hauptsächlich den Grenzkriegen entlehnt, zuweilen auf ältere Gestalten, wie Robin Hood, zurückgreift, auch fremdländische Gebilde nicht verschmäht. Überhaupt feiert die schottische Muse Triumphe zu einer Zeit, in der die englische schweigt; John Barbour (gest. 1396) wählt die Abenteuer des Heldenkönigs Robert Bruce zum Gegenstand eines epischen Gedichts und führt seine Aufgabe frisch und lebendig durch. Der blinde Minstrel Harry (gestorben nach 1492) folgte ihm mit seinem Epos "Adventures of Sir William Wallace" und errang durch phantastischen, leidenschaftlichen Ton in Schottland bedeutende Popularität; König Jakob I. selbst (gest. 1437) besang seine Geliebte in der Manier Chaucers, dessen "Troilus und Cressida" von Robert Henryson (gest. 1490) im "Testament of Cresseid" fortgesetzt wurde. Der hervorragendste Dichter war William Dunbar (1460-1520), der die allegorische Form mit Meisterschaft beherrschte und über eine wirksame Komik verfügte.

III. Vom 15. Jahrh. bis zur Restauration.

Geschwächt, teilweise vernichtet ging der englische Adel aus den Rosenkriegen hervor; dagegen erhob sich mit dem Haus Tudor ein starkes Königtum, unter dessen Zepter ein wohlhabender Bürgerstand emporblühte. Da konnte, was indes als glänzendes Gestirn am südlichen Himmel Europas aufgegangen, auch nach England seine wärmenden und verklärenden Strahlen werfen, da wirkte das neubelebte, aus Schutt und Asche emporgestiegene klassische Altertum auch auf den Geist englischer Männer. Der warme Hauch der Renaissance brach schnell das Eis, das seit Chaucer auf der litterarischen Thätigkeit gelastet hatte: wenige Dezennien nach der Thronbesteigung der Tudors beginnt die goldene Zeit, als deren unerreichten Höhepunkt der Engländer die Ära der Elisabeth betrachtet. Unter Heinrich VIII. freilich sind die Dichter wenig zahlreich und keineswegs originell, da sie italienischen Mustern mehr oder minder sklavisch nachgehen. Sein Hofpoet (seit jener Zeit blieb das Amt des Poet laureate ständige Hofcharge) John Skelton (gest. 1529) schlug indessen einen freiern und natürlichern Ton an als seine in Allegorie und Schwulst befangenen Vorgänger. Mehr noch förderte Henry Howard, Graf von Surrey (gest. 1546), die Poesie, indem er den ungereimten fünffüßigen Iambus (blank-verse), den er in seiner Übersetzung des zweiten und vierten Buches der "Äneide" anwendete, nach England verpflanzte, wo diese Form von den großen Dichtern der Zeit Elisabeths angenommen und seitdem niemals aufgegeben wurde. Bedeutsam für seine Stellung zur Antike ist die Wahl seines Originals; als selbständiger Dichter eignet er sich den Ton petrarchischer Lyrik an, der in eigentümlicher Zartheit aus seinen "Songs and sonnets" erklingt. Dem Sonett ist es eigen, daß es, einmal angestimmt, sirenengleich zur Nachfolge lockt, und so ahmten auch in England zahlreiche Dichter das italienische Reimgetön nach, vor allen Surreys Freund Thomas Wyatt (1503-42), der in dieser Form, doch auch in Liedern und Epigrammen italienische Muster nachbildet, dabei aber häufig in die Concettimanier verfällt. Aus dem Schluß der Reformationszeit besitzen wir ein wunderliches Werk, das unter dem Titel: "Mirrour for magistrates" eine umfangreiche Sammlung einzelner Gedichte enthält, welche berühmte und zugleich unglückliche Personen der englischen Geschichte feiern. Die Idee ging von Thomas Sackville, Lord Buckhurst (1527-1608), aus; am meisten haben zu dem Werk in seiner anfänglichen Gestalt beigesteuert ein Geistlicher, Baldwyne, und ein Jurist, Ferrers. Der Wert der historischen Bilder, die durch einen allegorischen Rahmen zusammengehalten werden, ist jedoch von seiten der Ästhetik nicht hoch anzuschlagen.

In das Reformationszeitalter fallen auch die ersten wichtigern Gestaltungen des englischen Dramas, insofern jetzt die bisher aufgeführten rohen Mirakelstücke in sogen. Moralitäten umgewandelt wurden, die bereits Tendenz und Personifikation verraten. Denn wie das moderne Theater überhaupt, ist auch das englische kirchlicher Abkunft. Nachrichten von den ältesten englischen Mysterien gehen bis zu Anfang des 12. Jahrh. zurück. Die Stücke führten den Namen Miracle-plays, häufiger noch den volksmäßigen der Pageants. Die meisten der in den Sammlungen altenglischer Mirakelspiele enthaltenen Dichtungen gehören einer Zeit an, in welcher sich bereits der Übergang der dramatischen Vorstellungen aus den kirchlichen Kreisen in weltliche zum großen Teil vollzogen hatte. Der Inhalt der erwähnten "Moralitäten" (Moral-plays) veranschaulicht durch Personifikation abstrakter Begriffe zumeist ethische und religiöse Lehren. Im Lauf der Zeit verliert sich das allegorische Element: immer freier werden die heiligen Stoffe behandelt, possenhafte Einschiebsel werden immer häufiger angebracht. Nicht nur in Skeltons "Magnificence" ist bereits die Allegorie durch witzige Beziehungen auf Zeitereignisse unterbrochen, auch in dem Moral-Play "Hicke-Scorner" aus dem Anfang des 16. Jahrh. hat das weltliche Element bereits die entschiedene Oberhand gewonnen, die allegorischen Bestandteile sind zurückgetreten, eine sehr realistische Darstellung des Wüstlingslebens der Zeit bildet den eigentlichen Inhalt. Bedeutender als die Beiträge Skeltons zum englischen Theater waren die des protestantischen Bischofs Bale (gest. 1563), der mehrere Mirakelspiele verfaßte, die sämtlich Aufklärung des Volkes über das päpstliche Unwesen und die Grundlehren der Reformation bezweckten. Der ursprüngliche Charakter des englischen Dramas mußte indessen immer mehr verblassen, seit es bei den Großen des Königreichs Mode ward, Schauspielertruppen im