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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Erziehung

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Erziehung (israelitische, christlich-moderne).

nach Rom wesentlich verändert, indem das den Griechen tief eingewurzelte Streben nach schöner Darstellung sowohl in der Gymnastik als in der Musik den Römern meist fremd blieb, wogegen am Tiber Hingebung an den Staat, Wertschätzung geschichtlicher Überlieferungen, kurz die konservative und patriotische Seite, bevorzugte Pflege fanden. Als die Monarchie ihre büreaukratischen Formen zur Durchführung gebracht hatte, entwickelte sich, namentlich seit Hadrian, ein ziemlich ausgebreitetes staatliches Schulwesen, und jener Zeit gehört auch die Erstarrung der alten Schulwissenschaften in der Form der sieben freien Künste, des Triviums: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, und des Quadriviums: Arithmetik, Geometrie (einschließlich Geographie), Musik, Astronomie, an, die den Zusammensturz der Alten Welt überdauert hat. Dieser Zusammensturz kündigte sich übrigens auch auf dem Gebiet der E. schon lange zuvor durch eine bedenkliche, von vielen ernstern Männern schwer empfundene Lockerung der Familienbande und Verweichlichung der Jugend an, die im schroffen Gegensatz zu der gerühmten Gravität der alten Römer und der freilich auch sagenhaft übertriebenen Sittenstrenge der alten Catone stand. Nie darf überdies bei der Würdigung dessen, was wir als antike E. kennen, vergessen werden, daß diese Art der E. nur dem kleinsten Teil der Bevölkerung zu teil wurde, indem auch bei den Römern vom Genuß derselben Sklaven und niederes Volk unbedingt und absichtlich ausgeschlossen waren. Nur wenige leise Anklänge an die Idee der allgemeinen menschlichen und Volkserziehung, wie sie der modernen Pädagogik zu Grunde liegt, finden sich im Altertum, namentlich bei den Stoikern und verwandten philosophischen Schulen.

Diese Idee trat als wirksamer Sauerteig durch das Christentum in die Alte Welt ein, war aber seit Jahrhunderten in der Entwickelung des Volkes Israel vorbereitet worden. Der feste Glaube an den einen lebendigen Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, beseelte dies Volk und begründete zugleich die Anschauung von der Einheit des menschlichen Geschlechts und der nur thatsächlich durch das verschiedene Maß der Erkenntnis Gottes beeinträchtigten Gleichberechtigung aller seiner Glieder. Der Vorzug der reinen Gotteserkenntnis, wie sie im mosaischen Gesetz klassischen Ausdruck gefunden hatte, legte freilich auch hier die Gefahr überhebender Abschließung nahe; aber einerseits liegt doch schon in dem reinern Begriff der Volksgemeinde, wie er hier waltete, ein großer Fortschritt, und anderseits fehlte gegenüber der gesetzlichen Engherzigkeit in den guten Tagen der israelitischen Geschichte nie die Gegenwirkung des freiern, weiter blickenden prophetischen Geistes, der sich namentlich in der Vorahnung einer bessern Zukunft äußerte, in der alle Menschen vom Geist Gottes beseelt und zu einem Volk Gottes vereint werden sollten. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich auch die israelitische E. Gerade als die buchstäbische Weisheit der Schriftgelehrten den edlern Geist der Prophetie ganz erdrückt zu haben schien, brach er in Jesus von Nazareth und seinem Jüngerkreis in seiner ganzen göttlichen Kraft hervor und erneuerte das gesamte Leben der Menschheit. Ausgehend vom Glauben an den gnädigen Gott, der will, daß allen Menschen geholfen werde und alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen sollen, erwacht nun die reine Menschenliebe und beweist sich namentlich auch in der Pflege der Kleinen und Unmündigen, deren besonderer Freund der große Meister war. Nun erst konnte die E. eine wahrhaft menschliche, naturgemäße werden. Allerdings prägen sich große Ideen nur langsam in dem zähen irdischen Stoff aus, und wir selbst stehen noch mitten in diesem allmählichen Vorgang. Aber doch ist schon ein großer Schritt auf der richtigen Bahn geschehen. Zunächst galt es nach dem Zusammenbruch der alten Bildung und Weltordnung, die empfänglichen und begabten, aber noch rohen und gewaltthätigen Germanen für die edlere Lebensansicht des Christentums und die höhere Bildung der alten Völker zu gewinnen. Die klösterliche und überhaupt die asketische E. der Mönche und Geistlichen in der katholischen Kirche hat in den Zeiten der Völkerwanderung und des frühern Mittelalters in dieser Richtung verdienstlich gewirkt, wenn auch in ihrer Grundidee schon eine Trübung der urchristlichen Lebensansicht liegt. Die kirchliche E. des Laienstandes in der Kirchenzucht und Beichtpraxis kann als eine weitere Ausstrahlung von demselben Kernpunkt aus betrachtet werben und teilt Vorzüge und Nachteile mit ihr; der wesentlichste Mangel beider ist die Gleichgültigkeit oder in vielen Fällen gar der Gegensatz zu dem vaterländischen Interesse. Dieses kam überhaupt im Mittelalter zu keiner rechten Geltung, indem selbst die weltlichen Formen der E. ihre Ideale mehr aus dem Leben, den Aufgaben, dem Herkommen einzelner Stände (Ritterstand, Zünfte etc.) als aus dem gemeinsamen Leben des Vaterlandes hernahmen. Am reinsten finden wir noch das patriotische Element in den mächtigen Städten entwickelt, die in der zweiten Hälfte dieses Zeitalters emporkamen, während der Ritterstand in dieser Hinsicht merkwürdige Gegensätze aufweist. Gegenüber dem Verfall aller mittelalterlichen Lebensverhältnisse predigte der Humanismus zuerst in Italien im 14. und 15. Jahrh., dann aber auch in Frankreich, Deutschland, England etc. die Rückkehr zu der edlen Menschlichkeit, wie sie im Altertum den Griechen und griechisch gebildeten Römern als Ziel der E. vorgeschwebt hatte. Vielfach unterschätzten seine Anhänger dem gegenüber den Wert des christlichen Erziehungsideals, bis dies in der deutschen Reformation in klassischer Reinheit wieder dargelegt ward. Beide Richtungen, nun miteinander im Bund, haben segensreich gewirkt. Aber die gelehrte E. an der Hand der Alten reichte nicht mehr aus, sobald die wissenschaftliche Erkenntnis über den von jenen erreichten Standpunkt hinauswuchs, und zugleich war durch die Reformation der echt christliche, vereinzelt, wie bei Karl d. Gr., auch im Mittelalter aufgetauchte Gedanke, daß die wesentlichen Grundlagen der E. allen Ständen und Stufen gemeinsam sein müssen, mit treibender Kraft wieder erweckt. So zeigt sich zunächst, schon seit der Reformation, in den evangelischen Staaten Deutschlands, allmählich, von da ausgehend, in allen gebildeten Völkern der Erde das Bestreben nach einer vernünftigen, planmäßigen Einrichtung der E. in ihren verschiedenen, durch die Mannigfaltigkeit des Lebens bedingten Richtungen und das steigende Bewußtsein von der Pflicht des Staats, die Segnungen einer vernünftigen E. dem ganzen Volk zugänglich zu machen. Die in ihren einzelnen Lehren wechselnden, aber doch innerlich zusammenhängenden Theorien, die seit J. A. ^[Johann Amos] Comenius (1591-1671), J. J. Rousseau (1712-78) und namentlich seit Joh. H. Pestalozzi (1746-1827) auf diesen Vorgang Einfluß gewonnen haben, berichtet die Geschichte der Pädagogik. Hier kann nur kurz darauf hingewiesen werden, wie in der Begründung einer allgemeinen Volksschule (zuerst in Deutschland und Skandinavien), in der Heranziehung des weiblichen Geschlechts zur öffentlichen E., in den besondern Veranstaltungen für die