Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Ethnographie

882

Ethnographie (Geschichtliches).

Natur auf das Schicksal der menschlichen Gesellschaft untersucht, wie denn Hippokrates die ungleichen Einwirkungen der Erdräume auf die Menschen erkannte. Solche Wahrheiten lagen aber verborgen unter einem Schutt grober Irrtümer.

Auch im Mittelalter gelangte man nicht wesentlich weiter. Die Erschließung Ostasiens hatte die Europäer mit einem neuen Menschenschlag in Verkehr gesetzt, und die auffallenden Verschiedenheiten der Gesichtsbildung waren den nach Asien gesandten Franziskanern nicht entgangen. Der päpstliche Gesandte zum Großchan der Mongolen, Plan Carpin (Mitte des 13. Jahrh.), schildert das breite Antlitz der Mongolen, ihre starken Backenknochen, platten Nasen, schiefen Augen. Dieses gelte, fügt er hinzu, auch von den Chinesen. Eine unbefangene, universelle Auffassung des Menschen wurde aber erst mit der neuern Zeit, mit der Reformation und der Entdeckung der Neuen Welt, möglich. Es bildete sich in den Geistern eine mehr nüchterne, auf die Beobachtung der Dinge dringende Weltanschauung. Man fing an, neben den andern Objekten der sinnlichen Wahrnehmung auch dem Menschen eine erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Doch interessierte damals noch zunächst das Kuriose, jene wilden Menschen mit Kannibalenfesten, die erst durch Entscheidung eines päpstlichen Dekrets als Menschen anerkannt wurden. Gering war der Fortschritt in den folgenden Jahrhunderten, wenn auch in Leibniz' strahlendem Genius sich bereits einige der Großthaten spiegelten, zu denen einst die ethnographische Wissenschaft berufen sein sollte. Die Wichtigkeit des Vergleichs der Naturvölker für die Geschichte der Kulturvölker erkannte 1766 Steebs, indem er aussprach: "Wenn wir die Beschreibung der Grönländer, der Hottentoten und der meisten amerikanischen Völker mit der Beschreibung der Skythen, Sarmaten und alten Deutschen zusammenhalten, so werden wir die Mängel der alten Nachrichten ersetzen können". Herder verlangte das Studium der menschlichen Natur, wie man Tiere und Pflanzen studiert, und 1793 definiert Meiners: "Die Geschichte der Menschheit allein begreift den ganzen Menschen und zeigt ihn, wie er zu allen Zeiten und in allen Teilen der Erde beschaffen war". Erweitert wurde der Horizont abermals mit den Entdeckungen in der Südsee, die sich an Cook und Forster knüpfen, und der Name der E. wird zuerst (z. B. in der "Ethnographischen Bildergalerie", Nürnb. 1791) im Anschluß an die Geographie genannt, während der Name der Anthropologie als Bezeichnung eines bestimmten Wissenszweigs zuerst bei Magnus Hund, "Anthropologia de natura hominis" (Leipz. 1501), vorkommt.

In seinem Werk "Systema naturae" hatte Linné den Menschen (Homo sapiens) zusammen mit den Affen zur Ordnung der Primaten gestellt und ihn kurz in vier Gruppen als amerikanischen, europäischen, asiatischen und afrikanischen Menschen gegliedert, wozu er noch verwilderte und mißgestaltete Menschen als besondere Varietäten hinzufügte, hierdurch schon seinen Standpunkt gegenüber der E. kennzeichnend. Weit höher stand Buffon, der 1749 in seinen "Variétés dans l'espèce humaine" außer der körperlichen Schilderung schon die geographische Verbreitung, die Sitten etc. der Völker skizziert, aber auch noch bei der geographischen Anordnung stehen bleibt. Erst der große Blumenbach trennte auf anthropologischer Basis das Menschengeschlecht in fünf Abarten ("De generis humani varietate nativa", Götting. 1776, und "Decades craniorum diversarum gentium", 1790). Die kaukasische Rasse mit symmetrischem Schädelbau stellte er in die Mitte, die Mongolen mit fast quadratischen und die Neger mit eng zusammengedrückten, prognathen Schädeln an die beiden Endpunkte der Formenreihe, während er die Amerikaner zwischen Mongolen und Kaukasier, die Malaien zwischen die Kaukasier und Neger als Übergänge einschaltete. Jeder dieser Rassen gab er ihre Merkmale nach Schädelbildung, Hautfarbe, Haar, Augenstellung und Mundform. Als aber Blumenbach seine Merkmale aufstellte, war er sich deutlich bewußt, daß es unmerkliche Stufen und Übergänge, nirgends aber scharfe Grenzen der Abarten gebe. Neben der Anatomie trat die Linguistik hilfreich beim Aufbau der E. auf, indem sie es ermöglichte, durch Vergleich die Völker genealogisch zu vereinigen, und diesen Weg betrat 1800 der spanische Priester Don Lorenzo Hervás, indem er die Sprachen nach ihrer grammatischen Übereinstimmung in Gruppen ordnete und die semitischen und finnischen Sprachen zusammenstellte. Die Übereinstimmung der malaiischen Sprachen war durch Joseph Banks 1771 entdeckt, aber erst durch W. v. Humboldts Werk über die Kawisprache wissenschaftlich begründet worden. Die innere Verwandtschaft des Deutschen und Persischen mit dem Sanskrit entdeckte Friedrich Schlegel, eine überraschende Erkenntnis, die durch Franz Bopps epochemachende Arbeiten ihre volle Bestätigung und weitern Ausbau erhielt. Schon früher (1820) hatte Julius Klaproth die nordasiatischen Sprachen in größere Gruppen (Finnisch, Türkisch, Tungusisch) zerlegt und 1820 Friedrich Adelung in seiner "Übersicht aller bekannten Sprachen und Dialekte" eine Klassifizierung der Völker des Erdballs versucht. Verhieß nun auch die Sprache Aufschluß über die Abstammung der Völker, so war sie doch kein untrügliches Zeichen innerer Blutsverwandtschaft, indem bald erkannt wurde, wie sie dem Wechsel unterworfen ist und ganz entfernt voneinander stehende Völker durch Tausch zu gleichen oder verwandten Sprachen gelangen können. Hilfreich wie die Linguistik gesellten sich auch Urgeschichte (Prähistorie) und Anthropologie der E. zu, die, auf solcher Basis erwachsend, sich erst in unsrer Zeit zur eigentlichen Wissenschaft auszubilden beginnt, wenn auch nicht verkannt werden darf, daß sie erst in den Anfängen steht.

Die Geburt der E. als moderner Wissenschaft datiert nicht vor dem Jahr 1829, als Milne-Edwards an Thierry in Paris einen Brief richtete, durch welchen die Begründung der Société ethnologique angebahnt und zugleich in bedeutungsvoller Weise die spätere Verbindung der Urgeschichte mit der E. vorbereitet wurde. Nicht minder wichtig war die Anregung, welche zuerst 1843 Jomard zur Gründung ethnographischer Museen gab, der auch wenige Jahre später erkannte, daß es schon hohe Zeit sei, die Geräte und Waffen der Naturvölker, die Überreste dahinschwindender Nationen zu sammeln. Dadurch kam System in die E., und den Franzosen gebührt das Verdienst, so die Wiege der E. geschaffen zu haben. Es folgten Amerikaner und Briten und später erst die Deutschen. Abgesehen von den Leistungen Einzelner, konzentriert sich die wissenschaftliche Thätigkeit auf ethnographischem Gebiet, aber immer noch verquickt mit den Schwesterwissenschaften der Urgeschichte und Anthropologie, heute in den verschiedenen Gesellschaften, Vereinszeitschriften und Museen, die in den meisten Kulturländern bestehen.

Die Société d'ethnologie zu Paris stammt aus dem Jahr 1839; es nahmen Männer wie Berthelot, d'Eichthal, Virey, Dumoulin, Bory Saint-Vincent, Edwards, Lenormant an ihr teil. Sie ist dann 1859