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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Frankreich

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Frankreich (Geschichte: die dritte Republik).

Volksstimme den König, den Unterdrückern Roms sich anzuschließen; selbst Dänemark blieb endlich neutral, während England in gewohnter Unthätigkeit verharrte. Bei der Mobilmachung zeigte sich sofort, daß die Armee keineswegs kriegsbereit war. So kam es, daß die Franzosen, statt Deutschland sofort mit ihren Scharen zu überschwemmen, in ihrem eignen Land angegriffen wurden. Schon nach den Schlachten bei Wörth und Spichern zeigte sich der ganze Staatsorganismus bedroht. Am 9. Aug. traten die schleunigst berufenen Kammern zusammen; das Ministerium Ollivier wurde sofort gestürzt und der Graf Palikao mit Bildung eines neuen Ministeriums beauftragt, in welchem er selbst das Präsidium und den Krieg übernahm, und welches übrigens durchaus bonapartistisch war. Das Ministerium Palikao suchte durch Beschönigung der wirklichen Sachlage die öffentliche Stimmung zu beruhigen und die Dynastie zu retten sowie die Streitkräfte des Landes zu organisieren. Aber die Ereignisse machten durch ihre Schnelligkeit alle diese Bemühungen vergeblich. Die gewaltige Niederlage bei Sedan am 1. und die Kapitulation vom 2. Sept. warfen das Kaisertum über den Haufen. Die erbitterte Volksmenge zwang in Paris die Kaiserin zur Flucht nach England, drang in den Sitzungssaal des Gesetzgebenden Körpers und nötigte denselben 4. Sept. zur Absetzung Napoleons. Auf dem Stadthaus wurde darauf die Republik ausgerufen und eine provisorische Regierung aus den Pariser Deputierten unter dem Präsidium des Generalgouverneurs von Paris, Trochu, gebildet. Dieselbe nannte sich Regierung der nationalen Verteidigung (Gouvernement de la défense nationale).

Ohne jede Schwierigkeit ward die Republik und ihre Regierung im ganzen Land anerkannt, das längst gewohnt war, sein Losungswort von Paris zu empfangen. Der Minister des Auswärtigen, J. ^[Jules] Favre, erklärte sich zwar zum Abschluß eines Friedens bereit, zugleich aber keinen Zoll des französischen Gebiets und keinen Stein seiner Festungen abtreten zu wollen; lieber werde F. den Kampf bis zum Äußersten fortsetzen. Unter diesen Umständen blieb eine Verhandlung Favres mit Bismarck in Ferrières 19. und 20. Sept. resultatlos. Allein die Hoffnung auf eine fremde Dazwischenkunft, welche Thiers durch eine Rundreise bei den Großmächten herbeizuführen suchte, schlug fehl, und seit Mitte September war Paris durch die deutschen Heere eingeschlossen. Die französische Regierung blieb trotzdem in Paris, jedoch schlug ein Teil derselben als "Delegation" seinen Sitz in Tours auf. Die Seele der republikanischen Regierung wurde bald Léon Gambetta, der, nachdem er sich 6. Okt. in einem Luftballon aus Paris nach Tours begeben hatte, sich zum Diktator Frankreichs aufwarf. Sein glühender Ehrgeiz, seine fieberhafte Thätigkeit, sein aufrichtiger Enthusiasmus schufen mit Hilfe der großartigen Vaterlandsliebe, Opferfähigkeit und Kriegsbegeisterung, welche das französische Volk auch diesmal bewährte, schon seit Mitte November immer neue zahlreiche Armeen aus dem scheinbar erschöpften F., das den Widerstand in Paris und den Provinzen noch fünf Monate fortsetzte und schließlich nach den blutigen Kämpfen der Nordarmee bei Amiens, Bapaume und St.-Quentin, der Loirearmee bei Orléans und Le Mans, der Ostarmee bei Belfort, endlich der Pariser Armee bei Villiers und am Mont Valérien Ende Januar 1871 mit der Kapitulation von Paris ehrenvoll unterlag.

Die Friedensunterhandlungen brachten eine Spaltung in der Regierung hervor. Während nach Abschluß des Waffenstillstandes 28. Jan. 1871 die Pariser Regierung die Wahlen zur Nationalversammlung ausschrieb, die über Krieg und Frieden entscheiden sollte, erließ auf Gambettas Betreiben die von Tours nach Bordeaux übergesiedelte Delegation 31. Jan. ein Dekret, welches alle notorischen Bonapartisten, ehemaligen kaiserlichen Beamten etc. vom Wahlrecht ausschloß. Aber die Pariser Regierung hob dieses Dekret auf und erklärte die Vollmachten der Delegation für erloschen, worauf dieselbe zurückzutreten sich genötigt sah. Die Wahlen zur Nationalversammlung gingen 8. Febr. ohne jede Beschränkung vor sich und ergaben eine große Mehrheit von Konservativen, da diese dem Land einen schleunigen Abschluß des Friedens versprachen, nach dem es sich vor allem sehnte. Am 13. Febr. trat die Nationalversammlung (750 Mitglieder) in Bordeaux zusammen, wählte den gemäßigten Republikaner Grévy zu ihrem Präsidenten und, nachdem die Regierung der nationalen Verteidigung ihr Amt niedergelegt, 17. Febr. fast einstimmig den in 20 Departements erwählten Thiers zum Chef der ausführenden Gewalt; er behielt Favre, Picard (für Inneres), Simon und Leflô als Minister und übertrug Dufaure die Justiz, Lambrecht den Handel, Pothuau die Marine, de Larcy die öffentlichen Arbeiten. Diesem aus verschiedenen Parteien zusammengesetzten Ministerium entsprach sein 19. Febr. entwickeltes Programm, welches baldigsten Abschluß des Friedens und Waffenstillstand zwischen allen Parteien bis zur völligen Befreiung und Wiederherstellung des Landes bedeutete. Am 26. Febr. wurden die Friedenspräliminarien zu Versailles abgeschlossen, die freilich mit der Abtretung von drei Departements (Elsaß-Lothringen) und der Zahlung von 5 Milliarden Kriegskosten harte Opfer auferlegten, aber von der Nationalversammlung unter ungeheurer Aufregung 1. März mit 546 Stimmen gegen 107 angenommen wurden; zugleich wurde fast einstimmig die Dynastie der Bonaparte für des Throns auf immer verlustig erklärt. Der definitive Friede, der an den Präliminarien wenig änderte, wurde 10. Mai 1871 in Frankfurt a. M. unterzeichnet. (Ausführlicheres über den deutsch-franz. Krieg s. im Spezialartikel.)

Die Begründung der dritten Republik.

Die Zahl der monarchisch gesinnten Mitglieder in der Nationalversammlung war so groß, daß die Herstellung der Monarchie in F. damals wohl möglich gewesen wäre. Aber weder der Graf von Chambord noch die Orléans besaßen den Mut, das Staatsruder mit fester Hand zu ergreifen und die Verantwortung für den von der Nation ersehnten, aber für ihren Stolz so demütigenden Frieden mit Deutschland und für die Unterdrückung der republikanischen Partei zu übernehmen. Die Prätendenten zogen es vor, diese schwierigen Aufgaben erst durch die interimistische Regierung lösen zu lassen, ehe sie selbst den Thron einnahmen, und waren nur darauf bedacht, sich den Weg zu demselben frei zu halten. Die Monarchisten schlossen daher mit den Republikanern in der Nationalversammlung den Pakt von Bordeaux, wonach die Frage der definitiven Regierungsform vorläufig eine offene bleiben solle. Dagegen setzten sie es durch, daß der Sitz der Versammlung nicht nach Paris, sondern nach Versailles verlegt wurde. Hierdurch erweckten sie aber in der aufgeregten Bevölkerung von Paris den Argwohn, daß die Herstellung einer reaktionären Monarchie beabsichtigt sei, und so versuchten die Kommunisten, welche schon während der Belagerung zweimal, 31. Okt. 1870 und 22. Jan. 1871, sich empört hatten, 18. März einen neuen Aufstand, welcher glückte.