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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Frankreich

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Frankreich (Geschichte: die dritte Republik).

die Regierung dazu, durch den Bau einer Eisenbahn in Senegambien und durch die Brazzasche Expedition im Congogebiet dem französischen Handel neue Gebiete in Westafrika zu erschließen, ferner Madagaskar (s. d.) ganz der Herrschaft Frankreichs zu unterwerfen. Von besonderer Wichtigkeit war der Beschluß, die Besitzungen in Ostasien durch die Erwerbung Tongkings (s. d.) zu erweitern und die Bildung eines großen hinterindischen Reichs vorzubereiten. Indes verwickelte Challemel-Lacour, der zuerst unter Ferry die auswärtigen Angelegenheiten leitete, durch Ablehnung des Bouréeschen Vertrags, welcher eine friedliche Verständigung mit China über Hinterindien ermöglicht hätte, F. in einen förmlichen Krieg zunächst mit den chinesischen Söldnerbanden in Tongking, dann mit China selbst. 1884 brachte Ferry einen neuen Vertrag mit China in Tiéntsin zu stande, nach welchem letzteres Tongking zu räumen und Anam der Schutzherrschaft Frankreichs zu überlassen versprach. Die Voreiligkeit eines Kommandeurs bei der Besetzung Langsons führte aber zu einem blutigen Zusammenstoß mit den chinesischen Truppen bei Baclé (23. Juni 1884), der die öffentliche Meinung in F. in die höchste Aufregung versetzte. Mit Zustimmung der Kammern schritt die französische Regierung nach der Ablehnung ihrer übermäßigen Entschädigungsforderung (250 Mill.) zu Repressalien gegen China und ließ das Arsenal und die Schiffe im Hafen von Futschou zerstören sowie das nördliche Formosa besetzen. Die Eroberung Tongkings wurde, allerdings mit Aufbietung bedeutender Streitkräfte, fast vollendet. Um einen großen Teil des Heers in Asien verwenden zu können, mußte F. sich in Europa einen Rückhalt verschaffen. Das Bündnis mit England war durch dessen rücksichtsloses Verhalten in der ägyptischen Frage für immer zerrissen. Ferry trug daher kein Bedenken, sich mit den mitteleuropäischen Mächten über die Streitfragen der europäischen Politik zu verständigen und sogar zum Deutschen Reich ein gutes Verhältnis herzustellen. Die deutsche Regierung war so gemäßigt, ja großmütig, daß sie, der wiederholten Herausforderungen der französischen Revanchepartei, besonders der Insulten, mit welchen der Pariser Pöbel 1883 aus Haß gegen Deutschland Alfons XII. von Spanien beleidigte, nicht achtend, in der ägyptischen Frage mit F. Hand in Hand ging und eine Vereinigung der Kontinentalmächte gegen England bewirkte, welche F. sehr zu statten kam. In chauvinistischen Kreisen wurde diese Annäherung an Deutschland ebenso beklagt wie die Schwächung der Revanchearmee durch die nach Tongking gesandten Truppen, und es bedurfte nur eines übrigens nicht bedeutenden Mißgeschicks der französischen Armee vor Langson (März 1885), um eine leidenschaftliche Aufwallung gegen das Ministerium Ferry, dem mit einemmal alle Verantwortung aufgebürdet wurde, in der Kammer hervorzurufen, durch die Ferry 30. März gestürzt wurde. Die Hast, mit der dies geschah, war um so weniger gerechtfertigt, als Ferry bereits den Frieden mit China angebahnt hatte. Die Präliminarien desselben wurden 4. April abgeschlossen und verpflichteten China zur Räumung Tongkings und zum Verzicht auf die Oberhoheit über Anam, wogegen F. jeden Anspruch auf Kriegskostenentschädigung aufgab. Der definitive Friede ward 9. Juni in Tiëntsin unterzeichnet.

Dem neuen Ministerium Brisson, das 6. April die Geschäfte übernommen hatte, wurde hierdurch die Fortsetzung der bisherigen Kolonialpolitik bedeutend erleichtert; denn es konnte dem Land eine erhebliche Verminderung der in Ostasien verwendeten Streitkräfte und demgemäß auch der Kosten in Aussicht stellen, und in Rücksicht hierauf bewilligten die Kammern auch einen Kredit von 150 Mill. zur Deckung der bisherigen Ausgaben. Vor allem aber widmete sich Brisson den innern Angelegenheiten. Das bisherige Wahlsystem, nach welchem die Deputierten nach Arrondissements gewählt wurden, hatte nach seiner Meinung den Nachteil, daß die Abgeordneten im Interesse ihrer Wahlkreise sich zu viel in die Verwaltung einmischten, daß ferner die Zersplitterung der Republikaner in mehrere Fraktionen dadurch befördert wurde, während das Wohl des Landes eine ständige, zuverlässige Majorität gemäßigter Republikaner oder Opportunisten erforderte. Diese glaubte die Regierung am besten durch Einführung des Listenskrutiniums (s. oben), nach welchem die Deputierten departementsweise gewählt werden, erreichen zu können, und die Kammern schlossen sich dieser Ansicht an, indem sie den von dem Ministerium vorgelegten Gesetzentwurf, der für die Zukunft die Listenwahl vorschrieb, annahmen. Hierauf ward die Session der Kammern 6. Aug. geschlossen und der Termin der Neuwahlen für die Deputiertenkammer auf den 4. Okt. festgesetzt. Man rechnete sicher auf eine erhebliche Verstärkung der ministeriellen Mehrheit. Da aber der Friede mit China die Schwierigkeiten in Hinterindien nicht beseitigte, vielmehr in Anam ein Aufstand ausbrach, zahllose Christen ermordet wurden und der französische General Courcy nur mit Mühe Hue behauptete; da ferner der bedenkliche Stand der Finanzen durch fortgesetzte Steigerung der Ausgaben bei Verminderung der Einnahmen und die trübe Geschäftslage dem Volk immer deutlicher zum Bewußtsein kamen; so ergaben die Wahlen vom 4. Okt. das für die Opportunisten niederschmetternde Resultat, daß 177 konservative und nur 127 republikanische Deputierte gewählt wurden, 270 Wahlen unentschieden blieben. Durch die verzweifelten Anstrengungen der Republikaner bei den Stichwahlen (18. Okt.) wurde nun zwar bewirkt, daß nur noch 26 Konservative, dagegen 246 Republikaner gewählt wurden, obwohl die erstern bei beiden Wahlen zusammengerechnet 3½ Mill., die Republikaner nur 4½ Mill. Stimmen bekamen. Die Republikaner hatten zwar noch die Mehrheit, aber nicht mehr die Opportunisten, da 105 Radikale gewählt waren. Die Lage der Regierung hatte sich also verschlechtert. Dies zeigte sich in der neuen Session der Kammer, welche 10. Nov. begann, sofort bei der Entscheidung über die für Tongking und Madagaskar wieder nötig gewordenen Kredite. Obwohl die republikanische Mehrheit die Wahlen von 22 Konservativen wegen klerikaler Wahlumtriebe für nichtig erklärt hatte, obwohl ferner noch in letzter Stunde ein günstiger Friedensvertrag mit Madagaskar (s. d.) zu stande gebracht worden, wurden die Kredite 24. Dez. nach langen Verhandlungen nur mit einer Mehrheit von vier Stimmen bewilligt. Brisson wartete daher nur ab, bis Grévy 28. Dez. für eine neue Periode von sieben Jahren zum Präsidenten der Republik gewählt worden war, um seine Entlassung einzureichen. Nun bildete Freycinet 5. Jan. 1886 aus den verschiedenen Gruppen der Linken ein neues Ministerium, das anfangs wenigstens die Unterstützung aller Republikaner fand. Dasselbe setzte sich besonders die Organisation der Schutzherrschaften in den Kolonien und die Herstellung des Gleichgewichts im Budget zum Ziel. Denn die Einnahmen blieben beständig hinter dem Voranschlag zurück, und die außerordentlichen Ausgaben verminderten sich trotz aller Versprechungen