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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur

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Französische Litteratur (Philosophie).

Falten, unverhüllte Sinnlichkeit sind die charakteristischen Merkmale dieser Schule, als deren Führer Champfleury gilt. Aber auch hier führte die Übertreibung bald über die Grenzen des ästhetisch und sittlich Erlaubten hinaus: von der "Dame aux camélias" des jüngern Dumas, der "Madame Bovary" von Flaubert, der "Fanny" von Feydeau und den unmoralischen Schriften von X. de Montépin, Th. Gautier und den Brüdern de Goncourt ist nur ein kleiner Schritt bis zu dem Naturalismus E. Zolas, dessen Romane in ihrer Brutalität und Lüsternheit allem Schamgefühl Hohn sprechen. Ihre fast beispiellosen Erfolge ("Assommoir" und "Nana" haben über 100 Auflagen erlebt) verdanken dieselben neben dem prickelnden Sinnenreiz der minutiösen Genauigkeit der Beobachtung und der wunderbaren Gestaltungskraft E. Zolas, Vorzüge, welche seinen Jüngern in viel geringerm Maß eigen sind. Von diesen sind J. ^[Jules] Claretie, Huysmans, J. ^[Jules] Vallès, A. Belot die rührigsten und talentvollsten; ihre Romane finden, auch in dramatisierter Form, besonders wegen ihrer Aktualität zahlreiche Bewunderer. Ähnlicher Erfolge haben sich die trefflichen Schilderungen Pariser Sitten von A. Daudet und die liebenswürdigen und pikanten Darstellungen von G. Droz zu rühmen; doch wurden sie weit überflügelt von den Erfolgen des Feuilletonromans, der in dieser Epoche eine unglaubliche Ausdehnung gewann. Erfunden von L. Véron, eingeführt von E. de Girardin vermittelst seiner "Presse", wurde derselbe durch die geschickten Federn eines A. Dumas (Vater), Fr. Soulié, P. Féval, E. Sue, Th. Gautier, L. Gozlan eine Macht ersten Ranges und führte eine Umgestaltung der gesamten Preßverhältnisse herbei. Der immer ungenierter hervortretenden Spekulation auf das Amüsement und die Neugierde der Leser, welche dem Charakter des Feuilletonromans als eines Konkurrenz- und industriellen Unternehmens entspricht, mußten der künstlerische Aufbau und die solide Durchführung der Erzählung zum Opfer fallen; jetzt ist er ebenfalls eine Domäne der Naturalisten geworden: statt der lang ausgesponnenen Abenteuer- und Verbrecherromane liest man jetzt ihre anatomischen und pathologischen Schilderungen. Anspruch auf Erwähnung in diesem Genre haben noch: P. Meurice, E. Gonzales, P. Zaccone, Gaboriau (Kriminalromane), E. Richebourg u. a. Im sentimentalen Roman sind neben der hochpoetischen G. Sand deren Geistesverwandte, der aristokratische O. Feuillet, der geschmackvolle V. Cherbuliez, der treffliche Landschafter A. Theuriet und der humoristische und psychologisch wahre J. ^[Julien] Sandeau (gest. 1883), zu nennen, ferner eine Anzahl Schriftsteller, die sich um die "Revue des Deux Mondes" gruppieren; H. Malot zeigt realistische Färbung. In dem luftigen Reich der Phantasie und des Witzes tummelt sich eine Schar glänzender Stilisten: der geistvolle, satirische E. About (gest. 1885), A. Karr, der affektierte A. Houssaye und Ch. Monselet. Moralische und religiöse Romane schrieben der jüngst bekehrte P. Féval, H. Violeau, L. Gautier und Mad. A. Craven; gute Schilderungen vom Seeleben lieferte (nächst E. Sue und Corbière) de la Landelle, vom Soldatenleben P. de Molènes und A. de Gondrecourt, vom Künstlertum H. Murger, von der Geistlichkeit Ferdinand Fabre u. a. In der Wiedergabe kleinstädtischen, dörfischen Lebens exzellierten neben E. Souvestre, G. Sand und J. ^[Jules] Janin besonders die Elsässer E. Erckmann und A. Chatrian, welche in einfacher, schmuckloser, in letzter Zeit freilich stark chauvinistisch gefärbter Darstellung Land und Leute ihrer Heimat schilderten. Großartigen Beifall fanden die phantastischen Abenteuer- und Reiseromane von J. ^[Jules] Verne, welche unter ihrer märchenhaften Hülle der Jugend ein reiches Maß naturhistorischer Belehrung und eine interessante Einführung in die Probleme moderner Wissenschaft bieten wollen. Eine eigne Litteratur brachten die Jahre 1870 und 1871 hervor, die sogen. Revanchelitteratur, die ihren Mittelpunkt in der "Nouvelle Revue" der Madame Adam (Juliette Lamber) hat, und in der fast alle jüngern Kräfte sich versucht und leichte Lorbeeren gepflückt haben. Hier ersetzten die Kraft des Hasses, die Heftigkeit der Invektiven, die wortreichen Klagen über das Unglück Frankreichs den Mangel an wahrer Poesie, Originalität und Korrektheit. Fr. Coppée, Achard, J. ^[Jules] Lacroix, Soulary, C. Mendès, E. Manuel, Ch. Lomon, Deroulède u. a. ließen ihre Wut gegen Deutschland in Gedichten, Dramen, Memoiren etc. aus, und gehässige und parteiische Schriften über Deutschland und das Elsaß, wie die von E. About und V. Tissot, finden noch jetzt einen gläubigen Leserkreis.

Wissenschaftliche Litteratur.

Philosophie.

Wie bei den übrigen modernen Nationen, hat es zwar auch in Frankreich schon im Mittelalter an philosophischen Bestrebungen nicht gefehlt, eine eigentlich französische Philosophie gehört aber erst den neuern Zeiten an. Die erste Spur jener Bestrebungen findet sich im 9. Jahrh., als Karl der Kahle den Vater der scholastischen Philosophie, Joh. Scotus Erigena (s. d.), aus England an die Hofschule zu Paris, den ersten Keim der nachherigen Pariser Universität, berief, welcher jedoch schon nach wenigen Jahren, der Ketzerei verdächtig, orthodoxer Verfolgung weichen mußte. Beide Erscheinungen, sowohl die Verpflanzung liberaler Denkweise von der Nachbarinsel her als kirchengläubige Reaktion gegen Freidenkende, haben sich seitdem im Lauf der geschichtlichen Entwickelung der Philosophie in Frankreich mehrmals wiederholt. Dennoch blieb von da an die hohe Schule von Paris (seit 1206 Universität) der vornehmste, lange Zeit neben der noch ältern Schwester Bologna der einzige Sitz der scholastischen Philosophie in Europa, die sich von dort auf die andern nach dem Muster jener beiden allmählich entstehenden Universitäten ausbreitete. Bis zum Ausgang des 14. Jahrh., d. h. bis zur Gründung der Universitäten zu Prag (1348) und Wien (1365), gibt es fast keinen namhaften Philosophen, der nicht entweder an der Pariser Universität gelehrt, oder doch daselbst seine Bildung empfangen hätte. Der Gegensatz der beiden großen Schulen des Realismus und Nominalismus, deren Hauptträger Wilhelm v. Champeaux und Johannes Roscellin, beide geborne Franzosen, wie der spätere der Thomisten und Scotisten, deren Vertreter, der Italiener Thomas von Aquino und der Brite Duns Scotus, beide Doktoren und Lehrer der Pariser Hochschule waren, ist von Paris ausgegangen. Das skeptische, dem französischen Nationalcharakter besonders entsprechende Element trat in Abälard (gest. 1142) hervor, dessen Konzeptualismus ebenso die herrschenden logischen wie seine berühmte Schrift "Sic et non" die herrschenden kirchlichen Gegensätze unentschieden ließ. Wie wenig die Neigung des französischen Geistes dem Dogma zugewandt war, beweist der Bericht des Marinus Mersennus in seinem Kommentar zur Genesis, daß es im Anfang des 15. Jahrh. zu Paris nicht weniger als 50,000 "Atheisten", d. h.