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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur

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Französische Litteratur (Philosophie).

(Physiologie) des Staats und der bürgerlichen Gesellschaft legte, auf welchem Weg ihm Turgot (1727-1781), der zuerst ein Gesetz derselben entdeckte, Condorcet (1743-93) und A. Comte (1798-1857) in Frankreich (Buckle in England) nachgefolgt sind. Lockes Empirismus wurde zugleich mit dem englischen Deismus und Liberalismus in kirchlichen und politischen Dingen durch Voltaire (1694-1778) seinen Landsleuten empfohlen und durch Condillac (1715-80) auf die Psychologie, durch J. J. Rousseau (1712-78) auf die Erziehungslehre angewandt. Durch den Sieg der Genannten ward der Cartesianismus aus allen Positionen verdrängt, und statt der Gegensätze einer apriorischen (aus Ideen) und einer aposteriorischen (aus Thatsachen) folgernden Philosophie standen einander in Frankreich im Lauf des 18. Jahrh. nur eine auf Thatsachen des innern und eine auf solche lediglich des äußern Sinnes sich stützende Erfahrungsphilosophie (psychologischer und physikalischer Empirismus, deren ersterer seinen Ausgang von der empirischen Psychologie, letzterer dagegen von der empirischen Physik nahm) als Kämpfer gegenüber. Jene, welche den Geist und dessen Vorgänge als Gegenstand der nach innen gewandten Selbstbeobachtung und dadurch als etwas von der Körperwelt, dem Gegenstand der nach außen gekehrten Anschauung, wesentlich Verschiedenartiges gelten ließ, behielt dadurch immer noch einen idealistischen, diese, indem sie nur Gegenstände der äußern Wahrnehmung für reell und daher das sogen. Geistige, soweit es überhaupt erfahrbar sei, eben nur für ein (verfeinertes) Körperliches erklärte, nahm entschieden materialistischen Charakter an. Der physikalische Empirismus, dessen Organ die Encyklopädie und dessen glänzendste Vertreter Diderot (1713-84), dessen letzte Schriften indessen einen idealistischen Anklang verrieten, d'Alembert (1717-83), v. Holbach (1723-89), der deutsche Verfasser des "Systeme de la nature", und der von Friedrich d. Gr. an seinen Hof gezogene Arzt La Mettrie (1709-51), der Verfasser des Buches "L'homme machine", waren, fiel mit dem Sensualismus zusammen und nahm die Gassendische Erbschaft Epikurs, durch das Ansehen der Newtonschen Physik unterstützt, in theoretischer und praktischer Hinsicht als atomistischen Materialismus und durch Helvetius (1715-71), in dessen Buch "De l'esprit", als eudämonistischen Egoismus wieder auf. Dieser "Moral des Eigennutzes", welcher selbst Diderot in seinen letzten Schriften durch die Bevorzugung des uneigennützigen Wohlwollens vergebens zu steuern gesucht hatte, gegenüber appellierte Rousseau von der durch die Zivilisation angeblich entstellten und verdorbenen an die ursprüngliche Güte der reinen Menschennatur (l'homme naturellement bon) als Thatsache des Selbstbewußtseins. Der psychologische Empirismus entdeckte in der Seele zwar nicht mehr, wie der Cartesianismus, angeborne Ideen, aber doch das Vorhandensein einer "angebornen" Gabe, richtig zu urteilen, eine "natürliche Vernunft", die wie durch einen Instinkt das Rechte trifft, und deren Ausspruch als oberster Instanz sich das bestehende "Vorurteil" in religiösen, politischen und sozialen Dingen unterzuordnen habe. Durch diese Aufdeckung der natürlichen Vernunft als unfehlbarer Erkenntnisquelle, worin er mit den englischen und schottischen Moralphilosophen, insbesondere mit Shaftesbury und Hutcheson, zusammentraf, ist Rousseau der eigentliche Vater der Aufklärung, der hinreißende Verkünder der Vernunftreligion und des Vernunftrechts und der Urheber des allgewaltigen Dranges zur Umgestaltung des bestehenden Vernunftwidrigen geworden, welcher zunächst in Frankreich zur gewaltsamen Umwälzung und zum großartigen, allerdings auch von Ausartungen nicht frei gebliebenen Versuch der Neubegründung des gesamten religiösen, politischen und sozialen Lebens nach Vernunftgrundsätzen führte. Trotz dieser scheinbaren Allmacht der Vernunft, welche für eine Weile die Philosophie an die Spitze der weltbewegenden Mächte stellte, hat die wissenschaftliche Strenge der Philosophie in Frankreich durch jenen Erfolg nicht gewonnen, da die bloß empirische Psychologie kein Mittel an die Hand gibt, Aussprüche der wahren von jenen einer nur scheinbaren Vernunft zu unterscheiden, welche Aufgabe erst die deutsche Philosophie durch Kant, den wärmsten Bewunderer Rousseaus, zu lösen gesucht hat. Die französische Philosophie befand sich daher nach der Revolution bei völlig veränderter äußerer Lage wissenschaftlich in demselben Fahrwasser wie vorher, da das neubegründete Kaiserreich wie das restaurierte Königtum ihr um der Auswüchse willen, die sich mit ihrem Namen geschmückt hatten, mißtrauten, die wieder zur Macht gelangte Kirche aber ihr mit Ausnahme einer Sekte theologisierender Philosophen wie immer feindlich war. Der psychologische Empirismus Condillacs wurde unter dem Namen der "Ideologie", dessen sich Napoleon zur Bezeichnung der ganzen ihm verhaßten Philosophie bedient hatte, von dem Grafen Destutt de Tracy (1754-1836), in gemäßigter Form von Laromiguière (1756-1837), der physikalische Empirismus (Sensualismus) unter dem Namen einer "Physiologie des Geistes" von Cabanis (1757-1808), dessen Werk "Les rapports du physique et du moral" durchaus das Gepräge des Materialismus trägt, Volney (1757-1820), dem Arzte de Broussais (1772-1838) u. a. vertreten.

Die Reaktion gegen beide ging teils vom Standpunkt des Supranaturalismus, teils von jenem des Rationalismus aus, welch letzterer teils an einheimische (Cartesianische), teils an ausländische (schottische und deutsche) Elemente anknüpfte. Erstere Schule, welche unter dem Namen der theologischen zusammengefaßt werden kann, hatte ihren Vorgänger in dem J. ^[Jakob] Böhme verwandten Mystiker Saint-Martin (1743-1803). Ihr gemeinsames Merkmal ist die Verwerfung der Vernunft; innerhalb derselben lassen sich aber drei untereinander abweichende Richtungen unterscheiden. Die erste, der Traditionalismus, dessen Urheber de Bonald (1754-1840) war, erklärte die Offenbarung für das Prinzip aller Erkenntnis und die göttliche Schöpfung der Sprache für das Grunddogma seines Systems. Die zweite, der theologische Skeptizismus des Abbé de Lamennais (1782-1854), der nach der Julirevolution zum Liberalismus überging, spricht der vereinzelten Vernunft, wie Pascal, die Erkenntnisfähigkeit ab, während er der Gesamtvernunft (d. h. der allgemeinen Übereinstimmung) Unfehlbarkeit beilegt. Den Ausdruck derselben erblickt er in der katholischen Kirche (der Gesamtheit der Gläubigen), welche daher der Quell aller Wahrheit ist. Da dieses Kriterium der Wahrheit im Grunde kein andres als das des natürlichen Vernunftinstinkts ist, der sich in der Übereinstimmung aller (consentement universel) offenbart, so war es ihm möglich, in den letzten Jahren seines Lebens vom theologischen zum demokratischen Standpunkt überzugehen und "Gottes Stimme", statt mit der Stimme der Kirche, mit der "Stimme des Volkes" zu identifizieren. Die dritte Richtung, der Ultramon-^[folgende Seite]