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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur

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Französische Litteratur (Philosophie).

tanismus des Grafen Joseph de Maistre (1753-1821), stimmt mit den beiden früher genannten darin überein, daß die (durch die Erbsünde verderbte) Vernunft unzulänglich, weicht aber von beiden durch die Behauptung (in seinem berühmten "Livre du pape", 1819-20) ab, daß der unfehlbare Erkenntnisquell weder in der Offenbarung noch in der Kirche, sondern allein in deren persönlicher Verkörperung, im Papste, dem übernatürlich-natürlichen Statthalter Christi, zu suchen, eine Erneuerung der Menschheit demnach nur von der theokratischen Herrschaft des katholischen Papsttums und der Hierarchie zu erwarten sei. Dasselbe haben nachher die Saint-Simonisten von der Theokratie ihres unfehlbaren Saint-Simonistischen und die Anhänger A. Comtes, die Positivisten, von jener des positivistischen Papstes und der Hierarchie ihrer Gesellschaften verkündigt. Der theologischen Richtung mehr oder weniger verwandt zeigten sich Frayssinous (gest. 1841), der Vicomte Walsh (gest. 1860), der deutsch-jüdische Konvertit Baron Eckstein (gest. 1861), E. de Genoude (gest. 1849), Ballanche (gest. 1847) u. a. Die rationalistische Reaktion gegen den Empirismus, die nach Janet als psychologische Schule bezeichnet werden darf, weil sie im Gegensatz gegen die theologische das Prinzip aller Philosophie in der Psychologie findet, die sich selbst aber bald die spiritualistische, bald die eklektische nennt, ging von den sogen. Doktrinären Royer-Collard (1763-1845) und Maine de Biran (1766-1824), dem durch beide Vorgenannte gebildeten Victor Cousin (1792-1867) und dessen Schülern, den sogen. Eklektikern, aus, unter welchen Jouffroy (1796-1842) der bedeutendste war. Der Erstgenannte, als Politiker bedeutender denn als Philosoph, führte die schottische Philosophie des sogen. "common sense" nach dem Muster von Reid und Dugald Stewart in Frankreich ein. Der zweite, von Cousin als der erste französische Metaphysiker des 19. Jahrh. gerühmt, ursprünglich Anhänger der Ideologie de Tracys, gründete durch sein Hauptwerk: "Essai sur les fondements de la psychologie", worin er teilweise mit Kant (insbesondere in Bezug auf die Faktoren der Erkenntnis) zusammentrifft, einen Idealismus, der, gleichweit entfernt von den abstrakten Metaphysikern, die sich in ein unzugängliches Absolutes, und den puren Empirikern, die sich nur in die Erscheinungswelt versetzen, von dem im Selbstbewußtsein erkannten und von seinem Phänomen unterschiedenen und sich von diesem unterscheidenden individuellen Subjekt seinen Ausgang nimmt. Der dritte, Cousin, durch das bekannte Buch der Frau v. Staël und die in Deutschland lebenden Emigranten Villers (gest. 1815) und Benjamin Constant de Rebecque (gest. 1830), von denen der erstere Kant, der letztere diesen und Jacobi studierte, auf die deutsche Philosophie aufmerksam und während längern wiederholten Aufenthalts in Deutschland mit dieser sowie persönlich mit Hegel und Schelling bekannt geworden, suchte zwischen der schottischen Philosophie, welche durch Hume jede Metaphysik leugnete, und der deutschen, die eine solche auf die Voraussetzung des Absoluten gründete, einen Mittelweg einzuschlagen. Er that es, indem er, wie seine Vorgänger und Lehrer, die Philosophie auf Psychologie stützte, den empiristischen Skeptizismus durch Kants subjektiven Apriorismus, aber auch dessen kritischen Subjektivismus durch die Einführung der Théorie de la raison impersonnelle bekämpfte, wodurch er sich dem absoluten Idealismus Schellings und Hegels näherte. Später entfernte er sich von diesem wieder und ging auf den Cartesianismus zurück, den er mit Platonischen Elementen versetzte und zu einem eignen System umgoß, dem er wegen der Vereinigung desjenigen, was ihm die verschiedensten Standpunkte Wahres darzubieten schienen, den Namen des Eklektizismus gab. Durch den Wert, den er infolgedessen auf Kenntnis der verschiedensten Systeme der Philosophie legte, ist er nebst Degérando (1772-1842) der eigentliche Begründer des Studiums der Geschichte der Philosophie in Frankreich geworden, um welche (insbesondere um jene der scholastischen Philosophie) er und seine Schüler Bouillier, Ravaisson, Hauréau, Rémusat, Damiron, Saisset, Janet, Bartholméß, Jules Simon und Caro sich namhafte Verdienste erworben haben. Die Schule Cousins beherrschte lange Zeit hindurch die französischen Lehrkanzeln, bis sie verdrängt wurde teils durch den Einfluß der Hegelschen Philosophie, die sich in wissenschaftlicher Strenge bei E. Renan, H. Taine, E. Vacherot u. a., mit radikalen Elementen vermischt bei Pierre Leroux (der zuerst als Gegner Cousins in seiner "Réfutation de l'éclecticisme" auftrat), Lerminier, Carnot und selbst bei Proudhon findet, teils durch die Lehre und Schule Auguste Comtes (1798-1857), den sogen. Positivismus, der, aus einer Verschmelzung des Sensualismus und der exakten Wissenschaft mit der praktischen Gesellschaftsreform des Saint-Simonismus entstanden, einerseits die philosophische Hauptwissenschaft, die Metaphysik, als Wissenschaft aufzuheben und zu einem unvollkommenen Durchgangsstadium alles Wissens herabzusetzen, anderseits die Philosophie der Geschichte als "Sociologie" zu einer exakten Wissenschaft zu erheben versucht, und dessen hervorragendste Jünger Littré (1801-83), Fouillée u. a. in Frankreich, Stuart Mill, Lewes, Taylor, Buckle, Spencer u. a. in England waren, von denen jedoch der erstgenannte die sogen. "subjektive" Periode des Meisters, deren Frucht die "politique positive" als positivistische Gesellschaftsreform war, die letztern dessen naturalistische Umwandlung der Psychologie in bloße Biologie nicht anerkannt haben. Die zahlreichen Reformversuche der menschlichen Gesellschaft, wie sie von Saint-Simon, Fourier, Cabet, L. Blanc, Proudhon theoretisch begründet und zum Teil auch (erfolglos) in Ausführung gebracht worden sind, gehören mehr der Gesellschaftswissenschaft als der Philosophie an. Gegenwärtig stehen einander in Frankreich zwei philosophische Schulen gegenüber, von denen die eine, als deren Hauptvertreter Janet und Caro zu bezeichnen sind, die idealistisch-psychologische, die andre, zu welcher A. Fouillée, Funck-Brentano u. a. gehören, die realistisch-positivistische Richtung einhält, jene sich der deutschen, diese der englischen Philosophie nähert. Zur Kenntnis der deutschen Philosophie haben außer Cousin, Villers und der Frau v. Staël vorzüglich Elsässer beigetragen, wie Willm: "L'histoire de la philosophie allemande depuis Kant jusqu'à Hegel" (1846-49, 4 Bde.) und "Essai sur la philosophie de Hegel" (1836), und A. Ott: "Hegel et la philosophie allemande" (1844); ferner Barchou de Penhoën: "L'histoire de la philosophie allemande depuis Leibniz jusqu'à Hegel" (1836, 2 Bde.); A. Saintes: "Histoire de la vie et des ouvrages de Spinoza" (1842) und "Histoire de la vie et de la philosophie de Kant" (1843). Vgl. Damiron, Essai sur l'histoire de la philosophie en France au XIX. siècle (1828); H. Taine, Les philosophes français du XIX. siècle (5. Aufl. 1884);