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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gefängniswesen

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Gefängniswesen (Schweigsystem, Markensystem, irisches oder progressives System).

gesetzt in den körperlichen, mit Isolierung unverträglichen Eigenschaften gewisser Personen (Jugendlicher, Kränklicher, Altersschwacher, Schwachsinniger, Nervös-Reizbarer). Weiterhin aber bleibt die Frage: ob Isolierung, wo sie an sich möglich, auch überall in zeitlicher Unbeschränktheit nützlich sei. In dieser Hinsicht gehen die Gesetzgebungen der europäischen Staaten weit auseinander. Vorzugsweise geeignet halten einige die Einzelhaft für schwere Verbrecher, andre für Untersuchungsgefangene und kurze Straffristen. Am weitesten ging Belgien, welches ganz allgemein für alle Strafarten von der Einzelhaft (s. d.) Gebrauch macht und nur die eine Grenze zieht, daß sie nicht über zehn Jahre hinauszugehen braucht.

3) Das Schweigsystem oder (nach seinem Entstehungsort im Staat New York) das Auburnsche System, seit 1823: Trennung der Gefangenen zur Nachtzeit in besondern Schlafzellen, womit der geschlechtlichen Unzucht begegnet werden soll; gemeinsame Arbeit bei Tag unter dem disziplinarischen Gesetz absoluten Schweigens; also eine Vermittelung zwischen der alten Gemeinschaftshaft und der Isolierung. Leitender Gedanke war: Isolierung mindestens bis zur Grenze der disziplinaren Notwendigkeit, Belebung des Wetteifers in der gemeinsamen Arbeit, Gewöhnung an strenge Disziplin inmitten der Verführung zu wechselseitigen Mitteilungen. Auch das Schweigsystem fand eifrige Verfechter in Europa. Einzelne Anstalten, wie St. Gallen, leisteten Gutes; im ganzen fand aber das Auburnsche System trotz seiner größern finanziellen Vorteile wenig Gunst, weil absolutes Schweigen, an sich unnatürlich in der Gemeinschaft, fortdauernd die Anwendung von Disziplinarstrafen herausfordert und dennoch nicht mit Erfolg erzwungen werden kann. In Deutschland repräsentiert das Zuchthaus von Halle dies System in baulicher Hinsicht.

4) Das Markensystem des englischen Kapitäns Maconochie, welcher davon auf der Südseeinsel Norfolk Island in der Weise Gebrauch machte, daß er an Stelle der richterlichen Strafdauer eine Anzahl von Arbeitspensen setzte, deren jedes der Durchschnittsleistung eines Tagewerks entsprach, die Ziffer dieser Arbeitspensen in Marken abverdienen ließ und damit ermöglichte, daß durch ein ungewöhnliches Maß von Fleiß und Anstrengung die Marken zahlreicher verdient werden konnten mit dem Erfolg einer demnach vom Sträfling selbst herbeigeführten Abkürzung der Strafdauer. Obwohl dies System sich nicht verallgemeinerte, hat es doch die große Bedeutung, daß die effektive Strafdauer mit bedingt ist durch das Verhalten des Sträflings während der Strafzeit und diesem ein aktives Motiv der Besserung entgegengebracht wird.

5) Das irische oder progressive System, welches seit 1853 von Crofton in Irland eingeführt worden ist und seitdem sich langsam über andre Staaten verbreitet hat. In ihm sind die vorzugsweise wirksamen Elemente der Einzelhaft mit den Grundgedanken des Markensystems zu einer innern Einheit verbunden worden. Neben dem Markensystem hatte sich in Australien zuerst die Praxis herausgebildet, deportierte Sträflinge wegen guten Verhaltens vor Ablauf der richterlich zuerkannten Strafdauer auf Widerruf zu entlassen (conditional discharge). Die mit einem sogen. Urlaubsschein (ticket of leave) von der Behörde versehenen Sträflinge konnten, wenn sie die Urlaubsperiode hindurch ihr gutes Verhalten fortsetzten, endgültig begnadigt werden; im Fall schlechten Betragens stand ihnen formlose Wiederverhaftung und Verbüßung des Strafrestes in Aussicht. Auch diese späterhin auf die englischen Zuchthäuser (convict prisons) übertragene Einrichtung benutzte Crofton für seinen Plan. Außerdem ging er von der Ansicht aus, daß Sträflinge in allmählichen Übergängen der Freiheit wieder entgegenzuführen seien und zu diesem Zweck eine besondere "Zwischenanstalt" zwischen dem vollen Strafzwang und zwischen der Freiheit eingeschoben werden solle. Das irische System zerfällt in seiner Anwendung auf lange dauernde Strafen (das gegenwärtig in England zulässige Minimum der penal servitude beträgt fünf Jahre) in vier Stadien: a) das Einzelhaftstadium von regelmäßig neun Monaten, welches indessen durch gutes Verhalten bis auf acht abgekürzt werden kann und vorzugsweise dazu dient, den Gefangenen seelisch zu erforschen und kennen zu lernen, zur Arbeit geneigt zu machen und durch Unterricht zur Einsicht und Umkehr zu bestimmen; b) das Gemeinschaftshaftstadium mit progressiver, durch Markenverteilung gekennzeichneter Klassifikation, wonach jeder Gefangene, in einer untern Klasse beginnend, nach einer gewissen, durch gutes Verhalten wiederum abzukürzenden Zeitfrist in höhere Klassen aufrückt, um dort größere Vorteile, entsprechend seinem Fortschreiten, zugebilligt zu erhalten, oder anderseits, um im Fall schlechten Verhaltens auf eine niedere Stufe zurückversetzt zu werden; c) das Stadium der Zwischenanstalt, welches dem Sträfling ein größeres Maß von Freiheit einräumt, die äußern Merkzeichen der Gefangenschaft (Sträflingskleidung) beseitigt und mit disziplinarischer Bestrafung unverträglich ist, dergestalt, daß jede Ordnungswidrigkeit Zurückversetzung in das zweite Stadium zur Folge haben würde; in der Zwischenanstalt wird dem Gefangenen auf Grund seines vorangegangenen Betragens Vertrauen geschenkt, damit er seinerseits Selbstvertrauen zu seinen Kräften gewinne, wenn er den Kampf mit den Versuchungen des Lebens zu bestehen hat; d) das Stadium der bedingungsweisen, widerruflichen Freilassung, während dessen sich der "Beurlaubte" unter einer wohlwollenden, ihm zum Lebenserwerb behilflichen Polizeiaufsicht befindet. - Das irische System ward trotz seiner günstigen Ergebnisse von verschiedenen Seiten her lebhaft angegriffen, zumeist von den Anhängern des strengen Einzelhaftsystems, welche eine Gemeinschaft unter Gefangenen unter keinen Bedingungen zulassen wollten und daher in Croftons Einrichtungen nur eine Wiederbelebung der alten verfehlten Klassifikationen erblickten, außerdem aber auch von solchen, welche nur an den Äußerlichkeiten der Durchführung Anstoß nahmen. Die Haupteigentümlichkeiten des irischen Systems liegen aber darin: Es ist progressiv in der Entwickelung der Gefangenschaft von größerer Härte und Strenge zu größerer Milde in Gemäßheit des vom Sträfling beobachteten Verhaltens. Es ist aktiv in seinem Prinzip gegenüber der Passivität der übrigen Systeme, welche die Persönlichkeit zum leidenden Objekt einer Zwangsbehandlung ohne hinreichende Gelegenheit zur Selbstbethätigung herabsetzen. Es ist graduiert, d. h. abgestuft, zum Unterschied von allen frühern Systemen, welche in monotoner Aufeinanderfolge von Tagen, Wochen, Monaten und Jahren die Gefangenschaft ermüdend und entschlußlähmend wirken lassen. Als Zufälligkeiten kommen dabei die äußern Umstände der in Irland angenommenen Ausführungsweise in Betracht. Das progressive System kann in einer einzigen großen Strafanstalt vollstreckt werden, wenn diese zum Teil für Einzelhaft, zum