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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gefühl

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Gefühl (psychologisch).

in beiden Fällen ist es vielmehr die Lage (dort der Moleküle im Nerv, hier der Vorstellungen im Bewußtsein), welche zum Ausdruck kommt. Wie nun beispielsweise für den Sehnerv die volle Anwesenheit des Lichtreizes Lichtempfindung, die (allerdings niemals totale) Abwesenheit desselben Empfindung der Dunkelheit veranlaßt, so rufen die einander entgegengesetzten Zustände des Vorstellens, die völlige Freiheit und Ungehemmtheit und das (gleichfalls niemals totale) Gehemmtsein desselben, entgegengesetzte Gefühle, jene das der Lust, dieses das der Unlust hervor. Beide, Gefühle wie Empfindungen, haben daher einen realistischen Charakter; aus dem Dasein der erstern läßt sich mit Sicherheit auf das Dasein gewisser Hemmungen oder Förderungen des Vorstellens, aus der Existenz der letztern ebenso auf die Existenz entsprechender Reize im Sinnesnerv schließen. Beide haben aber auch eine nicht aufzuhebende Dunkelheit an sich: aus der Qualität der Empfindung läßt sich auf keine Weise die Qualität des Reizes, aus jener des Gefühls ebensowenig die Qualität einer im Zustand der Hemmung oder Förderung befindlichen Vorstellungen "herausklauben". Alles, worauf uns die Empfindung zu schließen gestattet, ist, daß überhaupt Reize (einer gewissen Art) vorhanden sind. Alles, was uns das gegebene G. lehren kann, besteht darin, daß im Innern überhaupt Spannungszustände (einer gewissen Art) herrschen. Alles, was außerdem in die Empfindung als angeblich unmittelbar Wahrgenommenes hineingelegt wird, gehört einem groben Dogmatismus an, der durch Kant und die (idealistischen) Ergebnisse der neuern Physiologie der Sinnesorgane für immer beseitigt ist. Alles, was außerdem in das G. als vermeintlich unmittelbar Gefühltes hineingeheimnist wird, ist eine Illusion jener im Trüben fischenden Gefühlsphilosophie, welche den Bankrott des Wissens vom Übersinnlichen durch die Wünschelrute des Fühlens zu ersetzen wähnte. Vermögen jedoch die Gefühle über das außerhalb unsers Bewußtseins Befindliche (Objektive) uns nicht einmal so viel zu lehren wie die (deshalb objektiv genannten) Empfindungen, und sind sie deshalb, weil sie nur Zustände unsers eignen Bewußtseins offenbaren, vorzugsweise (im Gegensatz zu jenen) subjektive Seelenzustände, so sind sie doch als unaufhörliche und unvermeidliche Begleiter unsers Vorstellungslebens von ausnehmender Wichtigkeit. Sie drücken gleichsam den Anteil aus, den das Bewußtsein als solches an seinen eignen Zuständen, deren Hebung und Senkung, Freisein, Gehemmtsein und Wiederbefreitwerden nimmt. In der Qualität des jeweilig vorherrschenden Gefühls spiegelt sich, wie in der Stellung der Quecksilbersäule ober- oder unterhalb des Gefrierpunktes, der jeweilige Stand vorherrschender Hemmung oder Freithätigkeit des Vorstellens; in der Intensität und dem beschleunigten oder verzögerten Rhythmus desselben prägt sich der augenblickliche Grad und das Tempo der Zu- oder Abnahme des vorhandenen Spannungszustandes im Bewußtsein vornehmlich aus. Folge davon ist, daß die sprachlichen Bezeichnungen für die Beschaffenheit der Gefühle aus demjenigen Gebiet sinnlicher Erscheinungen genommen sind, welche, wie Wärme und Kälte, verschiedene Grade der Spannung zwischen den kleinsten Teilen der körperlichen Materie darstellen. In wessen Innerm schon geringe Veränderungen des gegebenen Spannungszustandes hinreichen, um Gefühle hervorzurufen, heißt ein Mensch von empfindlichem, derjenige, bei welchem die Intensität des Gefühls, mit jener der veranlassenden Spannung verglichen, hoch erscheint, einer von warmem G. Die entsprechenden Gegenteile stellen der unempfindliche (gefühllose) und kalte Mensch dar, obwohl beide Ausdrücke auch wohl auf die Abwesenheit einer gewissen Art von Gefühlen (den sympathetischen) gedeutet zu werden pflegen.

Bei der Einteilung und Aufzählung der Gefühle, die zu den mannigfaltigsten, aber auch rätselhaftesten Phänomenen des Bewußtseinslebens gehören und stets das "Kreuz" der Psychologen ausgemacht haben, kann entweder von der Beschaffenheit des Spannungszustandes, dessen Ausdruck das G. ist, oder von dessen Ursache ausgegangen werden. In ersterer Hinsicht unterscheidet man angenehme Gefühle als Ausdruck des ungehemmten und unangenehme Gefühle als solchen des gehemmten Zustandes im Bewußtsein; in letzterer Hinsicht körperliche Gefühle, wenn der Grund der Spannung in organischen Leibeszuständen, und geistige Gefühle, wenn er in dem Vorhandensein und Vorherrschen gewisser Vorstellungen oder Vorstellungsmassen im Bewußtsein liegt. Beide sind normal oder anormal, je nachdem die veranlassenden Leibes- oder Bewußtseinszustände es sind. So ruft das normal wiederkehrende Bedürfnis der Nahrung als Ersatz für den aufgezehrten Stoff das unangenehme, aber gesunde körperliche G. des Hungers bei jedem unter gleichen Umständen auf gleiche Weise, dagegen das anormal gesteigerte des Kranken nur bei diesem das krankhaft gesteigerte Schmerzgefühl des Heißhungers hervor. Ebenso werden bei normalen Verhältnissen vorhandene Vorstellungsmassen unter gleichen Umständen stets denselben Spannungsgrad zeigen und dieselben Gefühle nach sich ziehen; bei anormalen (z. B. wenn deren Selbstthätigkeit durch das Vorherrschen andrer Vorstellungsmassen gestört, gehemmt oder entstellt wird) werden zwar andre Spannungsverhältnisse und infolgedessen auch andre Gefühle zum Vorschein kommen, aber nur, weil und solange jene anormalen Umstände vorhanden sind. Die unter normalen Verhältnissen eintretenden Gefühle können, weil sie sich immer gleichbleiben, auch fixe (objektive) heißen; die unter anormalen auftretenden werden, weil sie, wie diese selbst, zufällig und unberechenbar sind, passend vage (subjektive) Gefühle genannt. Letztere sind es besonders, welche die Anwendung der angenehmen oder unangenehmen begleitenden Gefühle als Wertmesser der von ihnen begleiteten Bewußtseinszustände in Verruf gebracht haben. Sowenig nämlich sich vorhersagen läßt, daß z. B. eine Speise, die dem Gaumen unter normalen Gesundheitsverhältnissen des Geschmacksnervs angenehm schmeckt, ihm unter anormalen, z. B. bei einer Verstimmung des Nervs, ebenso munden werde, sowenig läßt sich vorhersehen, ob eine unter normalen Umständen, d. h. wenn sie allein im Bewußtsein vorhanden ist, ein gewisses G. nach sich ziehende Vorstellungsmasse dieselbe Folge haben werde, wenn außer derselben noch andre ihre Wirksamkeit störende, hemmende oder entstellende Vorstellungsmassen im Bewußtsein vorhanden sind. Daraus ist der Spruch entstanden, daß sich über den Geschmack (eigentlich das G.) nicht streiten lasse. Letzteres schon aus dem Grund nicht, weil jeder Streit, um zu einem greifbaren Ergebnis zu führen, deutlich bewußte Vorstellungen voraussetzt, G. jedoch zwar das Bewußtsein des Spannungszustandes der Vorstellungen, aber nicht dieser selbst ist. Zu den fixen körperlichen Gefühlen gehören die sogen. Vitalitätsgefühle, die von der gemeinsamen, zu den vagen die Idiosynkrasien (s. d.), welche von der individuellen körperlichen Organisa-^[folgende Seite]