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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gehirn

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Gehirn (seelische Funktionen des Menschenhirns).

daß es sich im wesentlichen auf die beiden Zentralwindungen beschränkt, daß hingegen die Körperbewegungen völlig ungestört bleiben bei Verletzungen der Hirnrinde am Schläfen und Hinterhauptslappen sowie an den vordern Abschnitten des Stirnlappens. Zentren, die man mit einiger Sicherheit zu trennen im stande war, sind durch die Buchstaben A, B und C bezeichnet, d. h. dem Gesicht und der Zunge kommt das untere, dem Arm das mittlere Drittel beider Zentralwindungen zu, während dem Bein das obere Drittel der hintern Zentralwindung und das Paracentalläppchen zufallen. Aus der Lage dieser Stellen wird auch verständlich, warum Lähmungen von Arm und Bein sowie von Arm und Antlitz leicht gleichzeitig beobachtet werden, während Bein und Antlitz nicht leicht gleichzeitig gelähmt sind, ohne daß der Arm mit ergriffen wäre. Die Lähmungen erfolgen übrigens fast immer gekreuzt, und sie bestehen in einer Aufhebung des Willenseinflusses auf die Muskeln, zu welcher sich später nicht selten dauernde Kontrakturen infolge der Wirkung nicht gelähmter Muskeln gesellen. Hinsichtlich der sensorischen Zentren in der Großhirnrinde des Menschen ist ermittelt, daß der Gesichtssinn im Occipitallappen seinen Sitz ausgeschlagen hat. In einigen Fällen sind Störungen des Muskelsinnes und der Hautsensibilität bei Affektionen des Scheitel und Stirnlappens, also der Gegenden, welche unmittelbar die motorische Zone begrenzen, beobachtet. Zentren für den Geruchs und Geschmackssinn sowie für den Gehörssinn sind bis jetzt mit Sicherheit nicht nachgewiesen, desto bestimmter aber für die Sprache, die ja im nahen Zusammenhang mit dem Gehörssinn steht. Die Rindensubstanz an der vordern und untern Grenze der Sylviusschen Spalte, wozu sich noch das Gebiet des Insellappens gesellt, ist als das Zentrum der Sprachfunktionen zu bezeichnen. Zahlreiche Beobachtungen haben ergeben, daß für die artikulierten Sprachbewegungen und für die Auffassung der Sprachlaute eigne Zentralgebiete bestehen (D u. E, Fig. 7); Aphasie, d. h. Aufhebung oder Störung des Sprachvermögens, die häufig mit Agraphie, d. h. Aufhebung des Schreibvermögens, verbunden ist, ist an Läsionen der dritten Stirnwindung gebunden, während Worttaubheit, d. h. Störung der Wortperzeption, zu der sich häufig Wortblindheit, d. h. Unvermögen, die Schriftbilder der Worte zu verstehen, gesellt, nur bei Affektionen der ersten Schläfenwindung beobachtet wird.

Man muß sich übrigens nicht vorstellen, daß nach der Zerstörung von motorischen oder sensorischen Zentren die Ausfallssymptome für immer bestehen bleiben; es ist vielmehr sichergestellt, daß die benachbarten unverletzten Hirnabschnitte bis zu einem ziemlichen Umfang stellvertretend zu funktionieren vermögen. Während aber diese Stellvertretung bei Fröschen und Vögeln schon bald nach der Verstümmelung des Gehirns auftritt und in einem bedeutenden Umfang besteht, macht sie sich bei Hunden erst weit später und in einem wesentlich geringern Grad geltend; beim Menschen aber scheinen die Ausfallssymptome, wenn die Verletzung des Gehirns einen ziemlichen Grad erreicht hat, niemals gänzlich zu schwinden, es sei denn, daß die Verletzung in der frühsten Lebensperiode erfolgt. Somit dürfte es nicht zweifelhaft sein, daß mit der zunehmenden Entwickelung die funktionelle Sonderung der Teile sich mehr und mehr geltend macht, und daß hiermit zu gleich die Möglichkeit einer Stellvertretung in engere Schranken gewiesen wird.

^[Abb.: Fig. 5. Sensorische Regionen an der Oberfläche des Hundegehirns. I Ansicht von oben, II Seitenansicht der linken Hirnhälfte. A Sehsphäre, A' zentrale Region derselben, B Hörsphäre, B' Region für die Perzeption artikulierter Laute, C-J Fühlsphäre, C Vorder-, D Hinterbeinregion, E Kopf-, F Augenregion, G Ohr-, H Nacken-, J Rumpfregion, a-g motorische Stellen wie in Fig. 3.]

^[Abb.: Fig. 6. Sensorische Regionen an der Oberfläche des Affengehirns. Bedeutung der Bezeichnungen wie in Fig. 5.]