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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gehirn

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Gehirn (Gehirnnerven Funktionen, Gehirnkrankheiten).

Die sogen. Hirnganglien stehen nicht allein mit der grauen Substanz des verlängerten Markes und des Rückenmarks und hierdurch mit der Körperperipherie, sondern auch mit den höhern Sinnesorganen in Verbindung. Diese Verbindungen sichern der Thätigkeit des Rückenmarks einen bestimmten Charakter, der sich in der Koordination der Bewegungen äußert, ferner schreibt man den Hirnganglien die Fähigkeit der Zusammenordnung der Empfindung zu und schließt dieses hauptsächlich aus dem Auftreten jener eigentümlichen Zwangsbewegungen (s. d.) nach Verletzung der Hirnganglien. Man führt nämlich diese Bewegungen auf Schwindelempfindungen zurück.

Dem Kleinhirn, welches wie eine Nebenleitung in die vom Rückenmark zum Großhirn verlaufenden Leitungsbahnen eingeschaltet ist, hat man früher irrtümlich auch psychische Funktionen zugeschrieben. Durch neuere Untersuchungen ist festgestellt, daß zwar nach Entfernung des Kleinhirns die willkürlichen Bewegungen noch möglich sind, daß diese aber ungeordnet und unsicher erscheinen, und daß deshalb das Organ die größte Bedeutung für die Regelung der Körperbewegungen besitzt.

Über die physiologische Bedeutung der zwölf Gehirnnerven ist das Nachfolgende ermittelt: 1) Der Riechnerv (nervus olfactorius) vermittelt die Geruchs-, 2) der Sehnerv (n. opticus) die Gesichtsempfindungen (s. Geruch und Gesicht). 3) Der gemeinschaftliche Augenmuskelnerv (n. oculomotorius) hält die Konvergenz der Sehachsen aufrecht und bewegt die Augäpfel ähnlich wie der Zügel die Köpfe eines Gespannes. Der Nervenzweig, welcher an die Iris tritt, vermag reflektorisch von der Netzhaut aus verengernd auf die Pupille einzuwirken, sobald ein starker Lichtstrahl ins Auge tritt. Wird der Nerv durchschnitten oder gelähmt, so zeigen sich beständige Akkommodation für die Ferne, Schielen nach auswärts, Erweiterung der Pupille, Herabhängen des obern Augenlides. 4) Der Rollmuskelnerv (n. trochlearis) ist der motorische Nerv für den Rollmuskel. 5) Der dreigeteilte Nerv (n. trigeminus) versorgt mit seinen motorischen Fasern hauptsächlich die Kaumuskeln, während die sensibeln Fasern fast an alle Haut und Schleimhautbedeckungen des Kopfes treten, hier nicht allein Empfindungen vermittelnd, sondern auch eine ganze Reihe von Reflexbewegungen (z. B. Blinzeln und Niesen) auslösend. Ferner enthält der Nerv noch vasomotorische Fasern; nach seiner Lähmung oder Durchschneidung zeigt sich in seinem Gebiet eine äußerst starke Füllung der Blutgefäße und Rötung der Haut. 6) Der äußere Augenmuskelnerv (n. abducens) ist der motorische Nerv für den äußern geraden Muskel des Auges; nach seiner Lähmung oder Durchschneidung gewahrt man Schielen nach innen bei sonst erhaltener Beweglichkeit des Auges. 7) Der Gesichtsnerv (n. facialis) versorgt mit seinen motorischen Fasern hauptsächlich die Gesichtsmuskeln; er ist der "mimische Nerv". Weiter enthält er vor allen Dingen sekretorische Fasern für die Speicheldrüsen. Nach der Lähmung des Facialis einer Seite erschlaffen die Gesichtsmuskeln der betreffenden Seite, sie werden deshalb nach der gesunden Seite hingezogen, und das Gesicht erscheint verzerrt. 8) Der Hörnerv (n. acusticus) vermittelt die Hörempfindungen (s. Gehör). 9) Der Zungen-Schlundkopfnerv (n. glossopharyngeus) vermittelt vor allen Dingen die Geschmacksempfindungen auf den hintern Regionen der Zunge, während der Nervus lingualis, ein Zweig des fünften Gehirnnervs, die vordern Regionen dieses Organs beherrscht. Er soll nur "bittere" Substanzen schmecken, der Lingualis ausschließlich der Empfindung des "Süßen" und "Sauern" dienen. Die motorischen Fasern des Nervs treten an den weichen Gaumen. 10) und 11) Der Lungen-Magennerv (n. Vagus) und Beinerv (n. accessorius) sind mit ihren Fasern so innig verbunden, daß eine getrennte physiologische Betrachtung einstweilen unthunlich ist. Die Nerven stehen den wichtigsten Geschäften des Verdauungs-, Atmungs- und Zirkulationsapparats vor, ihre Leistungen sollen deshalb nach diesen Apparaten gesondert betrachtet werden. Der Verdauungsapparat enthält sowohl motorische als sensible, nicht aber sekretorische Fasern. Die erstern lassen sich vom Gaumensegel bis zum obern Teil des Dünndarms verfolgen und regeln die Bewegungen des Verdauungsapparats. Die sensibeln Fasern lösen eine Anzahl von Reflexbewegungen, z. B. Schlingen und Erbrechen (s. d.), aus. Auch der Atmungsapparat empfängt motorische und sensible Nervenfasern; erstere verbreiten sich im Kehlkopf, in den Muskelfasern der Bronchien und in denen des Lungengewebes. Von den an den Kehlkopf tretenden Nerven hat der N. laryngeus inferior s. recurrens besonderes Interesse. Bereits Galenos war die hohe Bedeutung dieses Nervs für die Stimmbildung bekannt; er fand, daß Schweine nicht mehr schreien konnten, nachdem er beiderseits den Recurrens durchschnitten hatte; er nannte ihn deshalb den Stimmnerv. Die sensibeln Fasern haben die höchste Bedeutung für das Zustandekommen der Atmungsbewegungen (s. Atmung), außerdem wird von ihnen aus der Husten (s. d.) ausgelöst. Hinsichtlich der Wirkung auf den Zirkulationsapparat ist vor allen Dingen zu bemerken, daß der Vagus der Hemmungsnerv für das Herz ist (s. Blutbewegung). 12) Der Zungenfleischnerv (n. hypoglossus) ist der eigentliche Bewegungsnerv der Zunge.

Was die Geschwindigkeit der Hirnverrichtungen betrifft, so ist ermittelt, daß die einfachsten psychischen Prozesse keineswegs momentan ablaufen, daß vielmehr beispielsweise für das Zustandekommen einer Tastempfindung ein Zeitraum von ca. 1/7 Sekunde, für eine Lichtempfindung ca. 1/5 Sekunde, für eine Geschmacksempfindung ca. 1/6-1/5 Sekunde erforderlich ist. Vgl. Reichert, Der Bau des menschlichen Gehirns (Leipz. 1859-61); Bischoff, Die Großhirnwindungen des Menschen (Münch. 1868); Derselbe, Das Gehirngewicht des Menschen (Bonn 1880); Stilling, Neue Untersuchungen über den Bau des kleinen Gehirns des Menschen (Kassel 1877); Luys, Das G., sein Bau und seine Verrichtungen (Leipz. 1877); Charlton Bastian, Das G. als Organ des Geistes (deutsch, das. 1882); Heiberg, Schema der Wirkungsweise der Hirnnerven (Wiesb. 1885).

Gehirnkrankheiten.

Die Krankheiten des Gehirns äußern sich, ganz allgemein betrachtet, entweder in erhöhter Thätigkeit (Reizerscheinungen) oder in herabgesetzter Leistung (Lähmungen) des Gehirns. Da die verschiedenen Teile des Gehirns sehr verschiedenen Thätigkeiten vorstehen, so wird eine Reizung gewisser Bezirke der Gehirnrinde gesteigerte seelische Vorgänge (s. Wahnidee, Sinnestäuschung, Wahnsinn, Tobsucht), die Reizung motorischer Zentren dagegen abnorme Bewegungen (s. Epilepsie, Krämpfe, Muskelstarre, Genickkrampf, Veitstanz) zur Folge haben. Äußert sich die Gehirnkrankheit in Lähmung, so kann auch diese als eine Störung der Intelligenz (Blödsinn, Angst, Melancholie) oder als eine Lähmung der Muskeln (Paralyse, Parese, Bla-^[folgende Seite]