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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Geisteskrankheiten

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Geisteskrankheiten (Einteilung).

Melancholie, war es bislang nicht möglich, bestimmte materielle Anomalien nachzuweisen. Dennoch ist es unzweifelhaft, daß die G. auf krankhaften Veränderungen des Gehirns beruhen, mithin Gehirnleiden sind, ebenso wie die schmerzhaften Neuralgien durch Veränderungen der Nervenfasern bedingt werden, obwohl diese Veränderungen in beiden Fällen erst dann anatomisch nachzuweisen sind, wenn die nervöse Substanz bereits zerfallen und zu Grunde gegangen ist.

Die Einteilung der G. ist demnach bis jetzt auf anatomischer Grundlage nicht zu machen. Die Gesetzgebungen haben seit den ältesten Zeiten die Geisteskrankheit nahezu als eine Einheit angesehen, das römische Recht nennt dieselbe Dementia und unterscheidet unter den Kranken nur die Mente capti (Wahnsinnigen im allgemeinen Sinn) und die Furiosi (Rasenden). Fast alle deutschen Gesetzbücher sowie der Code civil haben mit wenigen Modifikationen die G. in Wahnsinn, Raserei und Blödsinn unterschieden, während das preußische Strafgesetz (1851) überhaupt nur die Unterarten des Wahnsinns und Blödsinns gelten läßt. Die vielen Schwierigkeiten, welche sich in der Praxis daraus ergeben, daß eine Fülle höchst verschiedener Störungen in der Sphäre der Vorstellung oder des Handelns formell als Einheit betrachtet werden müssen, sind im § 51 des deutschen Strafgesetzbuchs dadurch umgangen worden, daß für die forensische Frage der Zurechnungsfähigkeit fortab entscheidend ist, ob die freie Willensbestimmung als vorhanden oder als ausgeschlossen zu betrachten ist. Im Sinn des Gesetzes ist der Name der Geisteskrankheit also gleichbedeutend mit krankhafter Unfreiheit der Willensbestimmung.

Auf wissenschaftlicher Grundlage ist eine Einteilung der G. nur möglich, wenn man von der Erfahrung ausgeht, daß eine verhältnismäßig kleine Anzahl krankhafter Symptome beobachtet wird, welche sich einzeln oder in gewisser bestimmter Reihenfolge bei allen Geisteskranken wiederfindet. Diese Symptome heißen deshalb psychische Elementarstörungen oder elementare Anomalien. Dazu zählen hauptsächlich die folgenden: 1) Sinnestäuschungen oder Halluzinationen, welche zu den häufigsten Symptomen bei G. gehören und entweder in die Sphäre des Gesichts oder des Gehörs, seltener des Geruchs, Geschmacks oder Gefühls fallen. Wenn Halluzinationen im Bereich des Sehorgans bestehen, so glauben die Kranken Personen, Tiere oder Gegenstände zu sehen, welche nicht dasind, und an diese vermeintlichen Bilder knüpfen sich dann weitere Vorstellungen oder Impulse an, welche tausendfach verschieden sein können, aber alle auf das Hauptsymptom der Gesichtshalluzinationen zurückzuführen sind. Bei Gehörshalluzinationen sind es entweder einzelne Klänge oder Wörter, oder ganze Sätze, welche die Kranken zu hören glauben, und durch deren Inhalt sie in fromme (religiöser Wahn) oder heitere (Delirium), in traurige oder angsterfüllte Stimmung (Verfolgungswahn) versetzt werden. 2) Wahnvorstellungen, die Gesamtheit der verschiedenartigen irrigen Ideen und Kombinationen, welche aus den Sinnestäuschungen entstehen. Man hat sie mit Recht als besondere Gruppe der Elementarstörungen aufgeführt, jedoch ist es eine jetzt allseitig als irrig anerkannte Lehre, daß eine oder die andre Wahnvorstellung bei manchen sonst ganz gesunden Personen auftreten könne und alsdann die Bedeutung einer selbständigen Geisteskrankheit (Monomanie oder fixe Idee) beanspruchen dürfe. Manche Irrenärzte sind sogar noch weiter gegangen und haben solche Triebe, welche aus Halluzinationen und Wahnvorstellungen hervorgehen, als besondere Arten von Monomanien gedeutet, woraus die Namen Kleptomanie (Diebstahlstrieb), Pyromanie (Trieb zur Brandstiftung), Monomanie homicide (Selbstmordstrieb), Nympho- und Aidoiomanie (Geschlechtstrieb) entstanden sind; alle diese Namen sind veraltet und nur geeignet, Mißverständnisse zu erwecken, seit es mit Sicherheit erkannt ist, daß alle Personen, welche mit sogen. fixen Ideen behaftet sind, auch sonst nicht normale Individuen sind, sondern an einer wirklichen Geisteskrankheit (meist Epilepsie) leiden, von welcher die fixe Idee nur ein Symptom ist. Eine fernere Art der Elementarstörungen gehört der Sphäre des Empfindens, dem Gemütsleben an: 3) die heitere Verstimmung, bei welcher die Personen mehr oder weniger andauernd in außerordentlicher Ausgelassenheit leben und einen Frohsinn an den Tag legen, der meist irgend einer eingebildeten Idee entspringt, dem gesunden Verstand eines Beobachters aber durchaus unmotiviert erscheint. Diese Anomalie geht oft ganz unvermittelt über in 4) die traurige Verstimmung, bei welcher ein Alp auf den Kranken lastet und alles Denken und Fühlen von traurigen, sorgen- und kummervollen Ideen beherrscht wird. Als Elementarstörungen, welche hauptsächlich dem Gebiet der Intelligenz angehören, gelten 5) die Ideenflucht, ein Zustand, bei welchem die Gedanken sich überstürzen, ein neuer auftaucht, bevor der erste ausgedacht und ausgesprochen ist, 6) die Urteilsschwäche und 7) die Gedächtnisschwäche. Beide letztere faßt man oft zusammen als Schwachsinn oder in den höchsten Graden als Blödsinn (stupor). Keine dieser aufgezählten wesentlichen sieben Gruppen elementarer psychischer Anomalien ist nun an und für sich eine Psychose, d. h. wirkliche Geisteskrankheit, ja es ist sogar keine einzige derselben ein sicheres Symptom, daß eine Geisteskrankheit dahinter stecken müsse. Die ausgelassene Heiterkeit, in welche jemand durch den unverhofften Gewinn großer Reichtümer versetzt wird, kann in ihrer äußern Erscheinung ganz dem Gebaren eines tobsüchtigen Irren gleichen, der tiefe Seelenschmerz eines schwer geprüften, kummervollen Leidtragenden ist äußerlich nicht von dem Bild eines melancholischen Geisteskranken zu unterscheiden, die Sinnestäuschungen eines Trunkenen oder eines im Typhusfieber delirierenden Kranken werden sogar von Krankenwärtern und erfahrenen Laien nicht selten für Zeichen wahrer G. gehalten. Nur die fortgesetzte Beobachtung der Symptome, durch welche sich ihre abnorme Dauer ergibt, durch welche sich für die Verstimmungen deren Grundlosigkeit, Ungereimtheit herausstellt, ferner die umsichtige Beachtung aller vorausgegangenen Ereignisse, Kenntnisnahme von der persönlichen und Familiengeschichte, körperliche Untersuchung etc. können dazu führen, aus den genannten elementaren Anomalien den Schluß auf eine vorhandene Geisteskrankheit zu machen.

Die G. selbst sind demnach Krankheitsbilder (psychologische Formen), in welchen einzelne der erwähnten Elementarstörungen in bestimmter typischer Weise aufeinander folgen oder nebeneinander bestehen oder in regelmäßigem Wechsel wiederkehren. Nur durch die Erfahrung sind so im Lauf der Zeit die scheinbar regellosen Symptome gruppiert und geordnet worden, und mit der Fülle der Beobachtungen und der Herausbildung der Psychiatrie als Spezialwissenschaft gewinnt diese Gruppierung noch täglich an Schärfe und Feinheit. Die vielen populären Fremdwörter sind dem Eingeweih-^[folgende Seite]