Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gemeinde

65

Gemeinde (Gesetzgebung, Gemeinderecht, Gemeindeverfassung).

Landeshoheit der Dynasten untergruben jedoch die städtische Freiheit und Gemeindeselbständigkeit. Dieselbe Erscheinung findet sich auch in andern Staaten des europäischen Kontinents, während in England die historische Gemeindefreiheit, unbeschadet der Entwickelung eines zentralen Staatswesens, gewahrt wurde. Am weitesten ging die staatliche Zentralisation in Frankreich, woselbst die G. lediglich zu einem staatlichen Verwaltungsbezirk herabsank, eine Erscheinung, welche auch auf die angrenzenden westdeutschen Landschaften nicht ohne Einfluß bleiben konnte. Gleichwohl boten in Deutschland die alten Gemeindeverfassungen die Grundlage und die Möglichkeit zu einer Neubelebung des Bürgertums dar, und auf der Basis der G. baute sich eine neue staatliche Organisation auf, die Verjüngung des deutschen Gemein- und Gemeindewesens. Für die Emanzipation der G. war namentlich die preußische Städteordnung des Freiherrn vom Stein (vom 19. Nov. 1808) bahnbrechend. Von dieser hochwichtigen Schöpfung datiert die freiheitliche Entwickelung des deutschen Bürgertums in Preußen und in Deutschland, die Hebung des deutschen Gemeindewesens durch die ihm verliehene Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Seitdem hat das deutsche Gemeindewesen je nach der Ab- oder Zunahme der politischen Reaktion Perioden des Obsiegens oder der Unterdrückung durchgemacht. Die Bewegung des Jahrs 1848 machte sich auch auf diesem Gebiet geltend. Die verschiedenen Strömungen im politischen Leben der Nation haben auf die Gemeindegesetzgebung in den einzelnen deutschen Staaten den merkwürdigsten Einfluß ausgeübt. Die deutsche Gemeindegesetzgebung ist daher nichts weniger als eine einheitliche, und gerade in dem größten deutschen Staat fehlt es an einer einheitlichen Gemeindeordnung. Insbesondere haben in Preußen die sieben östlichen Provinzen keine vollständige Landgemeindeordnung, nur eine Ergänzung des allgemeinen Landrechts und provinzieller Gesetze und Herkommen durch ein Gesetz vom 14. April 1856, das aber durch die Kreisordnungen von 1872, 1884, 1885 und 1886 mannigfach modifiziert ist. In den Städten der alten Provinzen (mit Ausnahme von Vorpommern und Rügen) gilt die Städteordnung vom 30. Mai 1853; in Westfalen gelten die Städte- und die Landgemeindeordnung vom 19. März 1856; in der Rheinprovinz besteht für die größern Städte das Gesetz vom 15. Mai 1856, für die andern Gemeinden die Gemeindeordnung vom 23. Juli 1845 mit einigen Änderungen. Neuere Gemeindeordnungen haben Schleswig-Holstein (14. April 1869) und die Stadt Frankfurt a. M. (25. März 1867). Das Bedürfnis einer allgemeinen Landgemeindeordnung tritt in Preußen immer mehr zu Tage. In freisinnigem Geist sind abgefaßt die Gemeindeordnungen für Bayern, 29. April 1869, Sachsen, Städteordnung vom 24. April 1873, Baden, 1870 u. 1874, Oldenburg, 29. April 1831 und 12. Aug. 1833, und das österreichische Gemeindegesetz vom 5. März 1862. Frankreich dagegen hat seit 1872 in der Gesetzgebung noch weitere Rückschritte gemacht, da jetzt die Gemeindevorsteher (maires) ganz unter die Gewalt der Staatsregierung gestellt sind.

Die Bildung einer G. kann nur mit staatlicher Genehmigung erfolgen; in Baden, Braunschweig und andern Ländern ist sogar ein Gesetz hierzu erforderlich. Die Gemeindeangehörigkeit, welche im weitesten Sinn in dem Recht besteht, an den öffentlichen Gemeindeanstalten teilzunehmen, Unterstützungswohnsitz zu erwerben, und in der Pflicht, die Gemeindelasten mit zu tragen, ist entweder die von Rechts wegen eintretende Folge der unter bestimmten polizeilichen Voraussetzungen jedem gestatteten Niederlassung, oder sie wird durch Aufnahme erworben, welche jedoch seit dem Freizügigkeitsgesetz vom 1. Nov. 1867 nur unter genau bestimmten Voraussetzungen, z. B. wegen Nahrungsunfähigkeit, verweigert werden darf (s. Freizügigkeit). Mit der Gemeindeangehörigkeit ist aber nicht immer auch das sogen. aktive Bürgerrecht (Ortsbürgerrecht, Gemeinderecht) gegeben, d. h. das Recht, in Gemeindeangelegenheiten abzustimmen, zu wählen und gewählt zu werden und am Gemeindevermögen teilzunehmen; vielmehr knüpfen viele Gemeindegesetze das aktive Bürgerrecht an die Aufnahme durch die Gemeindebehörde und die Aufnahmeberechtigung an gewisse Bedingungen, z. B. Heimatsrecht oder zweijährigen Wohnsitz in der G., verbunden mit Steuerzahlung. In manchen Ländern kann die G. für die Verleihung des Bürgerrechts auch eine Abgabe (Bürger-, Einzugs-, Nachbargeld) erheben, so in Sachsen, Hessen, einigen thüringischen Staaten und im rechtsrheinischen Bayern. Für die Teilnahme an dem Bürgernutzen (Allmande) muß meistens noch ein besonderes Einkaufsgeld bezahlt werden. Wo diese Teilnahme an den Besitz von Grundstücken gebunden ist, bleibt dies Verhältnis unberührt. In Preußen, Baden und in der bayrischen Pfalz besteht das System, wonach unter den gesetzlichen Voraussetzungen das Gemeinderecht durch bloße Niederlassung und Aufenthalt im Gemeindebezirk erworben wird ohne besondere und ausdrückliche Aufnahme in den Gemeindeverband. Nach der preußischen Städteordnung ist das Bürgerrecht die Folge der Gemeindeangehörigkeit, wofern letztere ein Jahr gedauert hat, mit preußischer Staatsangehörigkeit, Selbständigkeit und einem Alter von 24 Jahren verbunden ist und entweder der Besitz eines Wohnhauses, oder der selbständige Betrieb eines Nahrungsgewerbes, oder eine bestimmte Steuerveranlagung, oder doch ein entsprechendes Einkommen hinzutritt. In den preußischen Landgemeinden besteht für die westlichen Provinzen dasselbe System, während in den östlichen Provinzen die besondern Ortsstatuten maßgebend sind. Im rechtsrheinischen Bayern ist zur Erwerbung des Gemeinderechts befähigt jeder volljährige und selbständige, in der G. besteuerte Einwohner, berechtigt jeder Befähigte, welcher in der G. entweder das Heimatsrecht besitzt, oder zwei Jahre gewohnt und Steuern bezahlt hat, ohne Armenunterstützung empfangen zu haben oder sonst unwürdig zu sein; verpflichtet endlich zur Erlangung des Gemeindebürgerrechts ist jeder Befähigte, welcher seit fünf Jahren in der G. wohnt und zu einem bestimmten Steuersatz veranlagt ist. Die Staatsangehörigkeit ist in allen Staaten Voraussetzung des Erwerbs des Bürgerrechts. Frühere Einteilungen der Bürger in ungleich berechtigte Klassen, wie Groß- und Kleinbürger, Voll- und Schutzbürger u. dgl., sind fast allenthalben hinweggefallen.

Die Gemeindeverfassung ist in den verschiedenen Staaten und in den einzelnen Landesteilen der größern Staaten eine außerordentlich verschiedene; auch fehlt es zum Teil an einer scharfen Unterscheidung zwischen der Gemeindeverwaltung, d. h. zwischen den vollziehenden, und der Gemeindevertretung, den beschließenden Organen der G. Die Verwaltung der G. repräsentiert der Gemeindevorstand, sei es ein einzelner Gemeindevorsteher (Bürgermeister, Schulze,