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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Genf

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Genf (Kanton).

des Kantons G. beläuft sich auf (1880) 101,595 Seelen. Bei 85 Proz. der Bevölkerung ist das Französische, bei 11 Proz. das Deutsche, bei 2 Proz. das Italienische die Muttersprache. Im J. 1880 zählte man 51,557 Katholiken, 48,359 Protestanten (Reformierte), 662 Juden. Das katholische Bekenntnis herrscht mehr in Carouge und den Landgemeinden, besonders des linken Ufers, das reformierte in der Hauptstadt und deren neuen Vorstädten Plainpalais und Eaux Vives. Die Genfer Katholiken waren bisher dem Bistum Freiburg-Lausanne zugeteilt; über den durch die Ernennung eines besondern Bischofs für G. neuerlich entstandenen Konflikt s. unten (Geschichte). Infolgedessen setzt ein Statut vom 23. März 1873 fest, daß die katholischen Pfarrer und Vikare von den katholischen Wählern ernannt werden, daß nur der vom Staat anerkannte Diözesanbischof die bischöfliche Jurisdiktion und Verwaltung handhaben kann, daß die katholischen Gemeinden einer schweizerischen Diözese angehören müssen und der Bischofsitz nicht in den Kanton G. verlegt werden darf. Es gibt im Kanton nur noch ein Kloster (in Carouge). Die Verwaltung der protestantischen Nationalkirche übt ein Konsistorium von 25 weltlichen und 6 geistlichen Mitgliedern, welche von der Gesamtheit der stimmfähigen Konfessionsangehörigen auf je vier Jahre gewählt werden.

In dem milden Thalgelände sind Gärtnerei, Obst- und Weinbau die Haupterwerbszweige. 83 Proz. des Areals sind produktives Land; davon entfallen auf Äcker, Gärten und Weiden 197 qkm, auf Waldungen 21 qkm, auf Weinberge 14,8 qkm. Zu dieser Urproduktion hat die neuere Zeit eine großartige Uhrmacherei und Bijouterie gesellt, die selbst im Land Faucigny (Savoyen) 2000 Arbeiter beschäftigt. G. pflegt insbesondere das Fach der teurern dekorierten Uhren, während die gewöhnlichen goldenen oder silbernen Taschenuhren in den jurassischen Gebieten und in Besançon verfertigt werden. Die jährliche Produktion bewegt sich gegenwärtig um 10 Mill. Frank, diejenige in Schmuckwaren um 10-12 Mill. Andre Gewerbe, wie Töpferei, Parketterie, Gerberei etc., sind hauptsächlich in der nahen Arbeiterstadt Carouge angesiedelt. G. bildet das Thor, durch welches der schweizerische Handel mit Lyon, Marseille, Spanien, Algerien etc. pulsiert; ja, solange nicht die direkte Schienenverbindung des St. Gotthard geöffnet war, bildete es auch die bequemste Pforte nach den östlichen Mittelmeerländern und dem fernern Orient. Nach Paris ist die direkte Linie (über den Col de Faucille) durch die Bahnverbindung überholt. Von der Genf-Lyoner Bahn zweigt (in Culoz) die Bahn nach dem Mont Cenis ab. Von Genf führt eine Linie der Suisse Occidentale den See entlang nach Morges-Lausanne, teils zur Verbindung mit der Nord- und Ostschweiz, teils zum Anschluß an die zum Simplon strebende Walliser Ligne d'Italie. Diesen Anschluß vermitteln teils die Dampfschiffahrt des Sees, welche in Bouveret direkt mit der Ligne d'Italie verkehrt, teils die Uferbahn Lausanne-Vevey-Villeneuve, welche in St.-Maurice einmündet. Zur Förderung des Handels dienen mehrere Banken in der Stadt G., darunter die Banque du commerce mit einem Kapital von 10 Mill. Fr. Der Kanton besitzt eine Menge öffentlicher Schulen und Privatinstitute, an der Spitze jener die 1559 gegründete, jetzt zur Universität umgetaufte Akademie, welche 1886: 21 Dozenten und 330 Studierende (dazu 216 Hörer) zählte. Außer den Sekundärschulen bestehen zwei Collèges in der Stadt G. und eins in Carouge, ferner zu Genf eine Industrie- und Handelsschule und ein Gymnasium, ein Observatorium, eine vom Staat unterstützte Taubstummenanstalt etc. Die Bürgerbibliothek, eine Stiftung Bonnivards, zählt 81,000, die Société de Lecture 62,000, die sämtlichen öffentlichen Bibliotheken des Kantons zusammen 235,300 Bände.

Die gegenwärtig in Kraft bestehende Verfassung des Kantons G. wurde 14. Mai 1847 vom Volk angenommen, seither wiederholt revidiert. Zufolge derselben bildet die Republik G. einen Kanton der schweizerischen Eidgenossenschaft von demokratischer Form. Garantiert sind die in den Schweizer Republiken üblichen Grundrechte. Die Souveränität ruht in der Gesamtheit der stimmfähigen Einwohner; diese stimmen als Conseil général über Kantonal- und Bundesverfassung ab. Das Organ der legislativen Gewalt ist der Grand Conseil, welcher von den drei Bezirken (Stadt, rechtes und linkes Ufer) auf je zwei Jahre nach Verhältnis der Kopfzahl gewählt wird. Es kommt je ein Mitglied auf 1000 Seelen, solange nicht die Zahl der Mitglieder 100 übersteigt; von da an wird die Skala entsprechend reduziert. Wählbar sind die Bürger weltlichen Standes, sofern sie das 25. Altersjahr zurückgelegt haben und im Vollgenuß ihrer Wahlrechte stehen. Der Grand Conseil versammelt sich ordentlicherweise zweimal jährlich. Das Initiativrecht üben der Staatsrat und die Mitglieder des Grand Conseil; die Vorschläge der letztern können an eine Legislativkommission gewiesen werden. Seit 1879 besteht das fakultative Referendum; eine Zahl von 3500 Wählern genügt, um die Abstimmung zu verlangen. Der Grand Conseil übt das Begnadigungsrecht, überwacht und bestimmt den jährlichen Staatshaushalt, ernennt die Abgeordneten in den eidgenössischen Ständerat etc. Die Exekutivgewalt ist einem Conseil d'État von sieben Mitgliedern übertragen, die durch den Conseil général auf je zwei Jahre, abwechselnd mit den Wahlen in den Großen Rat, gewählt werden. Wählbar sind die Wähler weltlichen Standes, sofern sie das 27. Altersjahr zurückgelegt haben. Die Gesetzgebung ordnet die Rechtspflege, alle Richter werden vom Großen Rat gewählt. Das Schwurgericht für Strafsachen und das Institut der Friedensrichter sind garantiert. Jede Gemeinde hat einen Conseil municipal, der je auf vier Jahre gewählt wird. In der Stadt G. ist die Munizipalverwaltung einem Conseil administratif übertragen, der durch den Munizipalrat aus der eignen Mitte bestellt wird. Der Staat sorgt für den Primär-, Sekundär- und akademischen Unterricht; der Primärunterricht ist unentgeltlich (und seit 1872 auch obligatorisch). Die Verfassung kann jederzeit (nach bestimmtem Modus) revidiert werden. Die Staatsrechnung von 1884 (Einnahmen 4,483,027 Fr., Ausgaben 5,546,920 Fr.) ergab ein Defizit von 1,063,893 Fr. Unter den Einnahmen ist der stärkste Posten Enregistrement, Timbres etc. mit 1,485,177; dann folgen Mobiliartaxe mit ca. 800,000 Fr., Contribution foncière mit über 600,000 Fr. etc. Den stärksten Ausgabeposten verursachte die Verzinsung und Amortisation der Staatsschuld mit 903,585 Fr.; dann folgt der Unterricht mit 381,050 für die Primärschule, 365,400 für die Universität etc. Auch der Staat G. beanspruchte unter dem Titel einer Erbschaftssteuer einen Teil des großen Vermögens, welches der am 13. Aug. 1873 verstorbene Herzog Karl von Braunschweig der Stadt hinterließ; er ließ sich mit einer Summe von 2,400,000 Fr. abfinden, und der Anteil der Stadt G. beläuft sich auf ca. 20 Mill. Fr.