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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Genf

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Genf (Geschichte).

Verbindung des savoyischen Adels, schwer bedrängt, bis ein Auszug Berns und Freiburgs den Herzog zwang, im Frieden von St.-Julien 19. Okt. 1530 Genfs Unabhängigkeit anzuerkennen. Die Reformation stürzte G. in neue Wirren. Während Bern für Farel freie Predigt verlangte, forderte Freiburg, daß man sie ihm verbiete, und erklärte, als der Rat von G. schwankte, sein Bündnis für erloschen (Mai 1534). Dies ermutigte den Herzog, im Einverständnis mit den katholischen Schweizer Kantonen seine Pläne gegen G., das sich jetzt ganz der Reformation zuwandte, wieder aufzunehmen, und er brachte es wieder in die größte Not. Als Frankreich Miene machte, die Stadt zu besetzen, kam ihm Bern zuvor, nahm dem Herzog die Waadt weg und befreite G. (Februar 1536). Im Juli d. J. kam Calvin nach G. und begann, von Farel festgehalten, eine völlige Umgestaltung des politischen und sozialen Lebens in theokratischem Sinn. Der von dem Konsistorium, welches aus den Geistlichen und zwölf "Ältesten" bestand, gehandhabte Sitten- und Glaubenszwang, die Verpönung der unschuldigsten Vergnügen, von Volksfesten, Theater, Tanz etc., erregten den Widerstand einer Freiheitspartei, der "Libertins", unter denen sich die angesehensten Genfer Bürger befanden. Nachdem Calvin 1538 mit Farel vertrieben worden war, kehrte er 1541 zurück, konnte aber sein System nur durch eine Schreckensherrschaft halten, welche er mit Hilfe der auf seine Fürsprache hin zahlreich eingebürgerten fremden Religionsflüchtlinge gegen die alten Genfer Familien ins Werk setzte. Viele, die nicht rechtzeitig flohen, mußten das Schafott besteigen, so ein Sohn des Freiheitsmärtyrers Berthelier, und Hunderte von Familien verließen die Stadt. So gelang es Calvin, sich seit 1555 zum allmächtigen Beherrscher Genfs aufzuschwingen, das er dafür zum Mittelpunkt der reformierten Welt, zum "protestantischen Rom", erhob. 1559 gründete er die berühmte Akademie, die Pflanzschule für reformierte Geistliche Frankreichs, der Niederlande, Englands und Schottlands. Nach seinem Tod 1564 folgte ihm als Vorsteher der Genfer Kirche und Akademie Theodor Beza (gest. 1605). Genfs Anschluß an die Schweiz wurde durch ein "ewiges Burgrecht" mit Bern und Zürich vom 30. Aug. 1584 noch enger; um so hartnäckiger aber wiesen die fünf katholischen Orte alle Anträge zur Aufnahme der Stadt als eines Gliedes der gesamten Eidgenossenschaft zurück, ja die mit ihnen seit 1560 im Bund stehenden Herzöge von Savoyen bedrohten Genfs Freiheit neuerdings. In der Nacht vom 11. zum 12. Dez. (alten Kalenders) 1602 suchte Karl Emanuel die Stadt zu überrumpeln; schon hatten 300 Savoyarden mittels geschwärzter Leitern die Mauern erstiegen, als sie entdeckt und aufgerieben wurden. Noch immer feiert G. den Jahrestag dieser glücklich abgeschlagenen "Eskalade".

Auch in G. gestaltete sich nach der Reformation das Staatswesen immer aristokratischer. Die Erwerbung des Bürgerrechts wurde fast unmöglich gemacht; die Befugnisse der allgemeinen Bürgerversammlung (Conseil général) beschränkten sich zuletzt darauf, daß sie die vier Syndiken, die höchsten Beamten, nach den Vorschlägen der Räte wählen durfte. Die Staatshoheit ging völlig auf den Kleinen Rat und den Rat der Zweihundert über, die sich an den jährlichen Wahltagen gegenseitig bestätigten und die leeren Plätze mit Verwandten füllten. Die Einwohnerschaft aber schied sich in bestimmte Rangklassen. Von den alten, reichen, regimentsfähigen Familien, den Citoyens, unterschied man die später Eingebürgerten als Bourgeois. Ganz außerhalb der Bürgerschaft standen die zahlreichen Natifs, d. h. die in G. gebornen Nachkommen von nicht eingebürgerten Einwohnern, und die bloßen Habitants, die gegen eine Abgabe in der Stadt geduldeten Ansässigen; beide Klassen waren nicht nur von allen Staatsstellen, sondern auch vom Handel und den höhern Berufsarten ausgeschlossen. Dazu kamen noch die Sujets, die Bewohner der wenigen der Stadt unterthänigen Ortschaften. Aber mit dem 18. Jahrh. begann G. durch eine Reihe von revolutionären Bewegungen die Aufmerksamkeit Europas auf sich zu ziehen. 1707 verlangte die Bürgerschaft unter der Führung des Rechtsgelehrten und Ratsmitgliedes Fatio eine auf dem Prinzip der unzerstörbaren Volkssouveränität aufgebaute Verfassung; die Räte wußten jedoch dieselbe durch einige Konzessionen zu teilen, worauf Fatio u. a. wegen angeblicher Verschwörung hingerichtet wurden. 1734 kam es zu neuen Unruhen zwischen den sogen. Représentants, d. h. Bürgern, welche Beschwerden gegen die Regierung erhoben, den Négatifs, den Anhängern der letztern, welche jenen Vorstellungen kein Gehör geben wollten, und den Natifs, die bald zu den erstern, bald zu den letztern standen. Erst nach dreijährigem Bürgerzwist kam durch die Vermittelung Frankreichs, Berns und Zürichs 1738 ein Vergleich zu stande, welcher der Bürgergemeinde das Recht, über Krieg und Frieden, Gesetze und Steuern zu bestimmen, zurückgab, dessen Weisheit von J. J. Rousseau gepriesen wird. Nun herrschte in G. ungestörte Ruhe, bis die Verurteilung von Rousseaus "Émile" und "Contrat social" 1763 den Kampf zwischen den Représentants und Négatifs erneuerte, infolgedessen 1768 der Conseil général das Recht erlangte, die Hälfte der Mitglieder der Zweihundert zu wählen. Nun traten auch die Natifs mit dem Verlangen nach Besserstellung auf; als der Rat sich weigerte, Zugeständnisse, die sie mit Hilfe der Représentants von der Bürgergemeinde erlangt hatten, zu bestätigen, vereinten sich die beiden Parteien zum Sturz der Regierung und übergaben die Staatsleitung einem "Sicherheitsausschuß" (9. April 1782). Aber auf Einladung der gestürzten Machthaber rückten 6000 Franzosen, 3000 Berner und 2500 Sardinier in die Stadt ein, die Führer der Volkspartei, Clavière, Duroveray, Dumont, Reybaz u. a., flohen, um später als Mitarbeiter Mirabeaus eine bedeutende Rolle in der französischen Revolution zu spielen, und der alte Zustand wurde wiederhergestellt (Juli 1782). Erst die französische Revolution brachte die herrschende Aristokratie zum Nachgeben; 22. März 1791 gewährte die Regierung eine freiheitliche Verfassung. Aber das Revolutionsfieber war damit nicht gestillt; schon 28. Dez. 1792 traten revolutionäre "Ausschüsse" an Stelle der gesetzlichen Regierung, und ein "Nationalkonvent" arbeitete eine Verfassung aus, die, 5. Febr. 1794 angenommen, alle Klassenunterschiede aufhob. G. hatte seine Klubs, seine Montagnards, seine Sansculotten und nach einem Pöbelaufstand 19. Juli 1794 auch seine Schreckenszeit, in welcher ein Revolutionstribunal binnen 18 Tagen 37 Personen zum Tod verurteilte, wovon 11 hingerichtet wurden, dann nach Robespierres Sturz seine ebenfalls nicht unblutige Gegenrevolution. Erst 1796 kehrten geordnete Zustände zurück. Nachdem ein erster Versuch der französischen Republik, sich Genfs zu bemächtigen, an der Wachsamkeit Berns und Zürichs gescheitert war (September 1792), wurde nach dem Einrücken der französischen Heere in die Schweiz die Annexion gewaltsam vollzogen (15. April 1798).