Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gletscher

425

Gletscher (geographische Verbreitung).

des Vorrückens und des Rückschreitens der G. unterscheidbar. So ist der Rhônegletscher 1856-80 um 854 m, Mer de Glace 1866-78 im jährlichen Durchschnitt um 73 m zurückgegangen; 1879-80 hielt sich der letztere stabil, seit 1880 rückt er wieder vor. Und wie diese G., so sind jetzt zwölf der Schweizer G. wieder im Vorrücken, während sie in den 70er Jahren sämtlich im Schwinden waren. Ja, es stellt sich heraus, daß, soweit die allerdings nur dürftigen Notizen reichen, alle alpinen G. wenigstens ungefähr mit geringen Abweichungen in den Jahreszahlen des Eintritts des Wechsels dieselben Perioden des Vorrückens und des Schwindens gehabt haben. Solche Perioden sind: vorrückende Tendenz 1595-1610, 1677-81, 1710-16, 1760-86, 1811-22, 1840-50 oder 1855; rückschreitende Tendenz 1750-67, 1800-1812, 1822-1844, 1855-80. Im allgemeinen hat sich für diese Steigerung und Abschwächung der Gletscherthätigkeit ein Zusammenhang mit dem meteorologischen Charakter der betreffenden Zeitperiode ergeben, besonders wenn man, und zwar namentlich bei den größern Gletschern, einer gewissen Retardation der Wirkung gegenüber der Ursache Rechnung trägt und außerdem nur länger andauernde meteorologisch abnorme Perioden berücksichtigt, da erfahrungsmäßig einzelne auffallend kühle und feuchte Jahre ebensowenig einen Einfluß auf Ausdehnung der G. haben wie einzelne hervorragend warme auf ein Zurückgehen derselben. Daß eine weiter zurückliegende geologische Periode (das mittlere Diluvium) besonders günstige Verhältnisse für ein Anwachsen der G. dargeboten haben muß, wurde unter "Eiszeit" und "Diluvium" besprochen.

Die Meereshöhe der untern Gletschergrenze (s. obige Tabelle) ist zunächst abhängig von der mittlern Temperatur der betreffenden Gegend und nähert sich deshalb im allgemeinen in hohen Breiten mehr und mehr dem Meeresspiegel. Einen sehr wichtigen, diesen allgemeinen Satz wesentlich alterierenden Einfluß aber üben lokale Verhältnisse aus. So befördert die Kombination von kühlen Sommern und gemäßigten Wintern die Gletscherthätigkeit im Gegensatz zu heißen Sommern, selbst wenn diese mit kältern Wintern gepaart auftreten. Daß namentlich hohe Kälte allein durchaus nicht als beförderndes Moment aufgefaßt werden darf, dafür zeugen viele in hohen Breiten gelegene und doch der G. gänzlich oder doch fast entbehrende Gegenden; vielmehr ist ein um den Nullpunkt des öftern herumschwankender klimatischer Zustand wohl die geeignetste Bedingung für die Entwickelung der G. Reichliche Niederschläge sind ein weiteres Erfordernis, wie z. B. im Himalaja die Südseite, als den wasserbeladenen Meereswinden ausgesetzt, weiter hinunter vergletschert ist als die von trocknen Landwinden bestrichene Nordseite. Wohl auf ähnliche lokale Verschiedenheiten ist der Umstand zurückzuführen, daß die G. Patagoniens unter 47° noch bis an das Meer reichen, während die Schmelzlinie in den unter gleicher nördlicher Breite liegenden Alpen 1000-1700 m ü. M. liegt.

Geographische Verbreitung der Gletscher.

Die am meisten vergletscherten Gebiete Europas sind, abgesehen von Island und Spitzbergen, welche Inseln, ihrer Lage unter hohen Breiten entsprechend, bedeutende G. besitzen, auf die Alpen, die Pyrenäen und die norwegischen Gebirge beschränkt, unter denen die Alpen weitaus die zahlreichsten und gewaltigsten aufzuweisen haben. Hier werden 1155 G. gezählt und das vergletscherte Territorium auf 3000-4000 qkm geschätzt. Speziell in einzelnen Schweizer Kantonen entfallen bedeutende Bruchteile des Gesamtterritoriums auf die G. und Firnfelder, wie die folgenden Zahlen zeigen:

^[Leerzeile]

Gletscher QKilom. Gesamtfläche QKilom. Proz. der Gesamtfläche

Wallis 971,7 5247,1 18,5

Uri 114,8 1076,0 10,6

Glarus 36,1 691,2 5,2

Graubünden 359,9 7184,0 5,0

Bern 288,0 6889,0 4,2

Unterwalden 13,5 765,3 1,8

Tessin 34,0 2818,4 1,2

St. Gallen 7,4 2019,0 0,37

Waadt 11,2 3222,8 0,35

Appenzell 1,1 419,6 0,26

Schwyz 1,3 908,5 0,14

^[Leerzeile]

Der längste unter den Alpengletschern ist der große Aletschgletscher mit 24 km Länge und einer Breite von 1,8 km, was einer Gesamtoberfläche von etwa 130 qkm entspricht. Hinsichtlich der Mächtigkeit der Eismasse ist man meist auf nicht zuverlässige Schätzungen angewiesen, da sich direkte Messungen nur an kleinern Hängegletschern vornehmen lassen. Immerhin ist man berechtigt, für die größten G. 200-400 m und in einzelnen Fällen noch mehr Mächtigkeit anzunehmen, woraus dann Heim für den Aletschgletscher eine Eismasse von 10,800 Mill. cbm berechnet. Den Alpen sind die Pyrenäen nur wenig ebenbürtig, denn unter den etwa 100 Gletschern, welche angegeben werden, dürfte sich eine Mehrzahl von bloßen Schneefeldern befinden. In der Sierra de Gredos und der Sierra Nevada in Spanien sollen ebenfalls kleine G. vorkommen. Norwegens Hauptgletschergebiet sind die Justedalsbraeer, von denen 24 G. erster Ordnung und mehrere Hundert zweiter Ordnung entspringen. Von Europas Grenzgebirgen ist der Ural gletscherfrei, der Kaukasus dagegen in seinen höhern Gipfelgruppen stark vergletschert. Als größter G. wird der Kaltschidon oder Karagan von etwa 8 km Länge angegeben. Asiens größte G. liegen im Himalajagebirge (und hier wieder in erster Linie im Transhimalaja von Kaschmir), im Hindukusch und im Karakorumgebirge. Aus letzterm wird ein G., der Baltoragletscher, von 56 km Länge beschrieben. Die Gletscherarmut, ja das fast gänzliche Fehlen derselben in Zentralasien, welches gegen diese großartige Vergletscherung der südlichen Ketten so absticht, wird auf dieselben Ursachen zurückgeführt, die, wie oben schon bemerkt, den Südabhang des Himalaja stärker vergletschern lassen als den Nordabhang: die südlichen Bergriesen fangen die Seewinde ab, und im Innern erhalten nur die höchsten Ketten noch einen Teil dieser mit Wasser geschwängerten Zufuhr. Afrika ist nach allem, was man weiß, vollkommen gletscherfrei, ebenso das australische Festland; dagegen besitzt Neuseeland eine große Anzahl sehr bedeutender G. In Nordamerika konzentriert sich die Gletscherthätigkeit in Grönland, wo eine große Anzahl gewaltiger G. die Massen des Binnen- (Inland-) Eises dem Meer zuführen; erzählt doch Helland, daß er bei einer starken Tagesreise deren 47 zu überschreiten hatte. Als großartigster wird der Humboldtgletscher genannt, der in einer Mächtigkeit von über 200 m und einer Breite von 70 km in das Meer mündet. Ein großer Teil der mitunter weit südwärts wandernden Eisberge wird durch das Abbrechen der Stirnen grönländischer, in das Meer mündender G. geliefert ("Kalben" der G.). Im übrigen Nordamerika tragen die bedeutenden Bergzüge im Westen vom Norden an bis etwa zum 44. Breitengrad zahlreiche G., von da ab nach Süden fast gar nicht mehr. Angaben von Glet-^[folgende Seite]