Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gletscher

426

Gletscher (Wirkungen; Geschichte der Gletscherforschung).

schern aus dem Felsengebirge lassen nicht vollkommen klar erkennen, ob es sich um wirkliche, in ununterbrochener Thätigkeit begriffene G. handelt. Die G. fehlen ferner in dem tropischen Teil Amerikas, und nur an einzelnen Stellen der zwischen den Wendekreisen gelegenen Kordilleren sind Spuren der Gletscherthätigkeit nachweisbar; weiter nach Süden aber mehren sich die G. rasch und steigen schon in der chilenischen Provinz Colchagua (unter 34° südl. Br.) bis zu 1800 m Meereshöhe herab. Daß unter 47°, also unter der Breite der Alpen auf der nördlichen Halbkugel, dort die untere Grenze das Meer erreicht, wurde schon oben erwähnt.

Wirkungen der Gletscher.

Die geologische Wichtigkeit der G. beschränkt sich aber nicht auf den im obigen geschilderten Transport des Eises von Bergeshöhen hinab in das Thal. Es dient vielmehr zugleich der G. als Vehikel für bedeutende Felsmassen, welche von den Felswänden längs des Gletscherbettes durch die Einwirkung der Atmosphärilien, besonders aber durch Frost abgelöst werden und auf den G. niederfallen. Durch die langsame, aber stetige Bewegung thalabwärts ordnen sich die Blöcke zu zwei Reihen an, parallel zur Längsachse des Eisstroms, nahe den beiderseitigen Ufern (Seitenmoränen, Gandecken in Bern, moraines latérales, a der Figur). Bei Gletschern, welche aus der Vereinigung zweier Einzelströme entstanden sind, legen sich zwei Seitenmoränen zu einer Mittelmoräne (Gufferlinie, bandes, moraines médianes, b der Figur) zusammen, welche in Mehrzahl sich wiederholen, wenn sich drei oder mehr G. vereinen. Sie überragen oft bedeutend die Oberfläche des Gletschers, eine Erhöhung, die nicht ausschließlich auf das Gestein selbst zurückzuführen ist, sondern zum Teil ihren Grund darin hat, daß der durch die Gesteinsbedeckung vor der Einwirkung der Sonne geschützte Gletscherstreifen weniger abschmilzt als der übrige ungeschützte Teil. Besonders deutlich ist dieses Verhältnis bei den sogen. Gletschertischen (Champignons, c der Figur) nachweisbar, einzelnen in die Mitte des Stroms geratenen Blöcken, unter deren Schutz sich Eissäulen, meist 0,5-1 m, mitunter selbst 2-4 m hoch, erhalten haben, denen nun das Gesteinsstück wie der Hut eines Pilzes aufsitzt. Im Gegenteil zu solcher schützenden Einwirkung größerer Gesteinsstücke befördert aufgeflogener Staub und Sand durch feine dunklere Färbung die oberflächliche Abschmelzung, wie oben bei den Schmutzstreifen besprochen wurde. Aber auch am Grunde des Gletschers bewegt sich Gesteinsmaterial, vorwiegend in Form eines Zerreibungspulvers, welches in den dort sich bewegenden und als Gletscherbach austretenden Wassern suspendiert wird und denselben je nach der Natur der pulverisierten Gesteine verschiedene intensive Farben (Gletschermilch) erteilt. Daneben kommen auch größere Gesteinsstücke, mitunter fest im Eis eingewachsen, am Grund vor, die bei ihrer Wanderung thalwärts den felsigen Untergrund und die Seitenwände des Gletschers ritzen und polieren (Gletscherstreifen), dabei selbst aber geritzt und gestreift werden (geritzte Gerölle, Scheuersteine). Unebenheiten des Untergrundes werden geebnet, Felszacken allmählich entfernt und namentlich in der Richtung des anstoßenden Gletschers, also thalauf, gerundet u. dadurch die eigentümlichen, mit Streifung versehenen runden Formen erzeugt, die man als Rundhöcker (roches moutonnées) bezeichnet. Wo der G. sein Ende findet, dort wird grobes u. feines Material (letzteres, soweit es nicht im Bachwasser suspendiert weiter transportiert wird) zum Absatz kommen (Endmoränen, Stirnmoränen, moraines frontales, d der Figur), untermeerisch als Gletscherdelta dann, wenn der G. in das Meer mündet. Eine besondere Wichtigkeit besitzen diese Gletscherstreifen, geritzten Gerölle, Rundhöcker und Stirnmoränen als bleibende Signale, wenn sich der G. zurückzieht, und von ihrem Nachweis ist die Kenntnis der weiten Verbreitung der G. in geologischer Vorzeit ausgegangen. Immerhin ist bei der Ausdeutung solcher Anzeichen eine wohl nicht immer geübte Vorsicht zu empfehlen, da die an ehemalige Gletscherthätigkeit geknüpften Erscheinungen recht ähnlich auch durch fließendes Wasser erzeugt werden können. So ist es sicher zu weit gegangen, wenn man die sogen. Riesentöpfe (s. d.) als untrügliche Anzeichen eines in prähistorischen Zeiten an der Stelle befindlichen Gletschers auffaßt. Dieselben setzen zu ihrer Bildung strudelförmig bewegtes Wasser voraus, welches aus einer Gletschermühle stammen kann, aber nicht zu stammen braucht. In ähnlich extremer Weise ist neuerdings die erodierende Thätigkeit der G. aufgefaßt worden. Vorschreitende G. können (dafür gibt es Beispiele) ein lockeres Erdreich mit der Grasnarbe vor sich herschieben, falten und aufrollen, sie können ihre Stirn- und Grundmoränen in ein wenig festes Alluvium einwühlen; aber zwischen solchen Thatsachen und der Annahme, daß Thäler, Fjorde, Seebecken durch G. im festen Gestein "ausgehobelt" worden seien, liegt noch ein großer Sprung - nicht jeder ist geneigt, mitzuspringen!

Geschichte der Gletscherforschung.

Unter den alten Geographen kennt schon Strabon die Eisberge und G.; unter den neuern gibt Sebast. Münster 1543 in seiner "Kosmographie" die erste Kunde davon, genauer Simler 1574, der schon Firn und G. unterscheidet. Hottinger und Scheuchzer stellten im Anfang des 17. Jahrh. die erste Theorie über das Vorrücken der G. auf, welches sie aus der Ausdehnung des in den Gletscherspalten gefrierenden Wassers und der Ausdehnung der im Gletschereis eingeschlossenen Luft herleiteten. Christen und Altmann (1751) verbreiteten die phantastische Vorstellung eines den höchsten Rücken der Alpen von der Rheinquelle bis nach Grindelwald bedeckenden wirklichen Eismeers, aus dem die Gletscherströme sich in die Nachbarthäler verbreiteten, erklärten aber ihr Vorrücken richtiger aus den Wirkungen der Schwere. Gruners 1760 erschienenes Werk über die Eisgebirge der Schweiz faßt die ganze damalige Kenntnis der G. zusammen. Von großer Wichtigkeit für die Kenntnis der G. wurden Saussures Untersuchungen der G. von Chamonix in den Jahren 1760 und 1761, wenn auch, verdunkelt durch das Ansehen jenes verdienstvollen Physikers und Geologen, die von Bordier 1773 zuerst über das Vorrücken der G. ausgesprochene Ansicht, daß sie sich wie eine zähflüssige Masse bewegen, unbeachtet blieb und erst in unsrer Zeit durch Messung und Experiment als die richtige zur Geltung kommen konnte. In Kuhns Werk "Versuch über den Mechanismus der G." (1787) werden zum erstenmal die über das heutige Eisgebiet hinausragenden Moränen verfolgt und so der Grund zur Kunde eines in prähistorischen Zeiten größern Umfanges der Gletscherthätigkeit gelegt. Ramond, Studer u. a. brachten manche neue Thatsachen über G. zur Kenntnis der Physiker, L. v. Buch, Wehlenberg über ihre Verbreitung. Aber erst in die Jahre 1830-45 fällt die rastlose Thätigkeit in der Erforschung der Natur der G. Wie Saussure einst auf dem hohen Col de Géant Tage zugebracht hatte, um meteorologische Beobachtungen zu machen, so beginnen