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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Goethe

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Goethe (Vorfahren; Jugend).

Sohn Friedrich Georg ließ sich 1687 in Frankfurt als Schneidermeister nieder, verheiratete sich dort zweimal und ward infolge seiner zweiten Heirat mit Cornelia Schellhorn, gebornen Walther, Gastwirt im "Weidenhof". Seinen jüngern Sohn, Johann Kaspar (getauft 31. Juli 1710, gest. 27. Mai 1782), ließ er die Rechte studieren, nach der Promotion in Wetzlar und Regensburg seine weitere Ausbildung suchen und nach Italien reisen. Heimgekehrt, bewarb sich Johann Kaspar G. um ein städtisches Amt, ward dem herrschenden Nepotismus der patrizischen Familien zufolge zurückgewiesen und faßte deshalb den Entschluß, nunmehr überhaupt kein Amt in seiner Vaterstadt anzunehmen. Durch behagliche Wohlhabenheit und eine vielseitige, wenn schon nur mühsam erworbene und darum beschränkte Bildung dazu befähigt, lebte Goethes Vater als privatisierender Jurist in seinem Haus am Frankfurter Hirschgraben (gegenwärtig im Besitz des Freien Deutschen Hochstifts), das er mit den Erinnerungen und Sammlungen von seinen Reisen schmückte und nach und nach mit Naturalien- und Kunstsammlungen, einer kleinen Gemäldegalerie zeitgenössischer Meister, einer bedeutenden Büchersammlung und zahlreichen zum Teil wertvollen Merkwürdigkeiten ausstattete. Dem Ehrgeiz, eine angesehene Stellung unter seinen Mitbürgern zu behaupten, hatte er dadurch genügt, daß er in der Zeit des österreichischen Erbfolgekriegs vom Kaiser Karl VII. die Würde eines kaiserlichen Rats erwarb, welche ihn den Häuptern des Frankfurter Senats gleichstellte, und 1748 die 17jährige Tochter des Schultheißen Johann Wolfgang Textor, Katharina Elisabeth (getauft 19. Febr. 1731, gest. 13. Sept. 1808), heimführte. Der älteste Sohn dieser Ehe war der Dichter; von mehreren nachgebornen Geschwistern blieb nur die Tochter Cornelia Friederike Christiane (geb. 7. Dez. 1750, seit 1773 mit J. ^[Johann] Georg Schlosser vermählt, gest. 8. Juni 1777 in Emmendingen) am Leben. Die Lebensführung des Goetheschen Hauses hielt zwischen streng bürgerlicher Einfachheit und einer gewissen patrizischen Fülle eine glückliche Mitte. Goethes Vater, kalt, ernst, ja pedantisch und steif, erhob sich doch durch seine furchtlose Männlichkeit und energische Wahrheitsliebe wie durch seinen unermüdlichen Bildungsdrang über die Masse der Reichsstädter. In seinem Haus gemessen, ordnungsliebend und gebieterisch, unterschied er sich wesentlich vom heitern, muntern Naturell und der warmen Herzlichkeit seiner Gattin, deren Frische und unverkünstelte naive Tüchtigkeit in spätern Tagen das Entzücken weiter Kreise werden sollte. G. bezeichnet in den bekannten Versen:

"Vom Vater hab' ich die Statur,

Des Lebens ernstes Führen;

Vom Mütterchen die Frohnatur

Und Lust zu fabulieren"

den beinahe gleichmäßigen Anteil, den Anlage und Wesen seiner Eltern auf ihn ausgeübt, obschon während seiner Jugend der Einfluß seiner Mutter überwiegend war. Die erste Jugend Goethes verfloß in Zuständen und Verhältnissen, welche die Phantasie des Knaben früh anregten und ein schnelles Reifen seiner geistigen Anlagen förderten. Trug dazu das Vaterhaus mit seinen Sammlungen und Büchern, die altertümliche Vaterstadt mit ihren reichsstädtischen Erinnerungen, ihren Messen und der Lebhaftigkeit ihres Verkehrs bei, so gesellten sich seit 1757, seit dem Ausbruch des Siebenjährigen Kriegs, reiche und wechselnde Welteindrücke hinzu. Derselbe führte zu Parteiungen innerhalb der Familie, welche bis dahin Goethes Welt gewesen. Der Großvater, Schultheiß Textor, war mit dem größern Teil seiner Familie österreichisch, Goethes Vater mit seinem Haus preußisch oder, wie es "Wahrheit und Dichtung" bezeichnend ausdrückt, "Fritzisch" gesinnt. Als Frankfurt im Januar 1759 von den Bundesgenossen Maria Theresias, den Franzosen, überrumpelt und für mehrere Jahre militärisch besetzt ward, geriet Goethes Vater in wachsende Verstimmung und Erbitterung, welche sich bis zu leidenschaftlichen Ausbrüchen gegen den im Goetheschen Haus einquartierten Königsleutnant Grafen Thorane (Thoranc) steigerten und nur durch die Dazwischenkunft von Goethes Mutter ausgeglichen werden konnten. Darüber litt der Unterricht, den Goethes Vater seinen Kindern in der richtigen Überzeugung von der Unzulänglichkeit des damaligen Schulwesens teils selbst erteilte, teils durch Privatlehrer erteilen ließ, empfindlich. Soweit derselbe auf eine frühe sprachliche Vielseitigkeit gerichtet gewesen war, erreichte er wenigstens durch die Fertigkeit im Französischen, die der junge Wolfgang während der französischen Okkupation Frankfurts und hauptsächlich beim Besuch der französischen Bühne erwarb, einigermaßen seinen Zweck. Da Graf Thorane als leidenschaftlicher Kunstfreund von den dem Goetheschen Haus befreundeten Frankfurter und Darmstädter Malern eine Reihe von Gemälden anfertigen ließ, fand der aufgeweckte Knabe auch Gelegenheit, seinen Kunstsinn zu üben und zu stärken. Beim Unterricht seines Vaters, der seit 1761 ernstlich wieder aufgenommen wurde, waltete im Gegensatz zum bloßen Gedächtnisunterricht damaliger Zeit die Methode vor, Verstand und Urteilskraft zu wecken und zu schärfen. Über Anekdoten und Fakta, die ihm diktiert wurden, mußte er Gespräche und moralische Betrachtungen abfassen. Ward dadurch sowie durch den beinahe ausschließlichen Umgang mit Erwachsenen eine gewisse Altklugheit in dem jugendlichen G. geweckt, so schloß dieselbe große Liebenswürdigkeit und anmutige Beweglichkeit seines Wesens nicht aus. Die Richtung auf phantasievolle Darstellung und lebendiges Erfassen der Außenwelt, die Verliebtheit in die Beschränkung realer Zustände, wie es G. wohl später bezeichnete, tritt uns bereits aus erhaltenen Aufsätzen seiner Schülerjahre entgegen; poetische Versuche in verschiedenen Sprachen gehörten zu seinen Stilübungen. Ein französisches Stück, ein Roman in Briefen einiger Geschwister, die über die Erde zerstreut sind und in verschiedenen Sprachen miteinander korrespondieren, ein Epos, "Joseph", in Prosa (nach dem Muster des Moserschen "Daniel in der Löwengrube" und andrer zeitgenössischer Werke), Gedichte nach allen möglichen Dichtern zeugten für den frühen Drang poetischer Hervorbringung. Die Neigung aber, im Leben selbst Poesie zu suchen, brachte dem 15jährigen die erste ernste Gefahr. Durch gelegentlichen fröhlichen Umgang mit jungen Männern, die unterhalb seiner Lebenskreise standen, ward er zu heimlichen Gelagen und nächtlichen Ausflügen verleitet, die ihn für eine gewisse Einförmigkeit der häuslichen Existenz entschädigten und um so mehr fesselten, als dabei eine frühe Liebesneigung ins Spiel kam. Gretchen, die Schwester eines der neugefundenen Kameraden, ergriff ihn mit ihren Reizen und ließ ihn das zum Teil plumpe, zum Teil bedenkliche Treiben ihrer Umgebungen übersehen. Ihren Namen hielt der Dichter im frühsten Entwurf und in der spätern Ausführung der Faustdichtung fest, ihr Bild ward ihm getrübt durch den Ausgang dieser ersten Liebe. Mitten in den Festen der Krönung Jo-^[folgende Seite]