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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Goethe

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Goethe (1775-76).

Dichter hatte dabei mit dem Widerstreben seines reichsstädtisch-steifen Vaters zu kämpfen, welcher den Gesinnungen und Absichten des weimarischen Hofs mißtraute. Schließlich entschied die immer tiefer empfundene Notwendigkeit, sich von Lili entweder ganz loszureißen, oder für sie und sich einen andern Boden zu erobern, Goethes Weggang aus der Vaterstadt. Anfang November reiste er von Frankfurt nach Thüringen, 7. Nov. morgens traf er in Weimar ein.

Das erste Jahrzehnt in Weimar.

Der erste Eintritt Goethes in die neuen Verhältnisse entschied im Grunde sein Bleiben. Karl August, der jugendliche Herzog, eine Natur voll Kraft und Energie, vom lebendigsten Interesse an geistigen Dingen ebenso wie von derber Lebenslust erfüllt, machte G. alsbald zu seinem Vertrauten, seinem Freunde; der Hof folgte willig oder unwillig (zumeist aber doch das erstere) dem von allerhöchster Stelle gegebenen Impuls. Die Herzogin Luise wie die Herzogin-Mutter Anna Amalia waren von Goethes Talent und menschlichem Wert tief überzeugt; Wieland, den im Jahr zuvor G. in dem satirischen Pasquill "Götter, Helden und Wieland" angegriffen hatte, verzieh nicht nur willig, sondern "seine Seele war so voll von G. wie ein Tautropfen von der Sonne". Der Ankunft Goethes als Gast folgten eine Reihe von Festen, Lustbarkeiten und Tollheiten aller Art, die durch die provisorische Existenz, welche der kleine weimarische Hof angesichts der Trümmer des im Mai 1774 zerstörten Residenzschlosses im sogen. Fürstenhaus und auf den Lustschlössern Ettersburg, Belvedere und Tiefurt führte, erleichtert und gefördert wurden. Bälle, Maskeraden, Schlittschuhlaufen und Schlittenfahrten, Komödienspiel und derbe Belustigungen aller Art jagten einander; mitten in dem Taumel verbanden sich der Herzog und G. täglich fester, so daß Karl August ohne den Dichter "nicht mehr schwimmen noch waten" konnte. Umsonst strengte jetzt, wo sie die Gefahr begriff, die ihr drohte, eine Partei am Hof und in der Büreaukratie des kleinen Landes alles an, um den Eintritt des herzoglichen Freundes (mit dem Karl August selbst das brüderliche Du gewechselt hatte, was er bis an sein Lebensende beibehielt, während G. nur in gewissen Ausnahmefällen und im engsten Verkehr Gebrauch davon gemacht zu haben scheint) in die Geschäfte zu hindern. Ging doch der dirigierende Staatsminister Freiherr v. Fritsch so weit, daß er lieber seine Entlassung nehmen, als mit G. im geheimen Konseil sitzen wollte. Karl Augusts Charakterstärke, die weit über seine Jahre hinausreichte, besiegte allen Widerstand. Fritsch ließ sich begütigen; alle übrigen Einwände wies der Herzog mit den Worten ab: "Einsichtige wünschen mir Glück, diesen Mann zu besitzen. Sein Kopf, sein Genie ist bekannt. Einen Mann von Genie an anderm Ort gebrauchen, als wo er selbst seine außerordentlichen Gaben gebrauchen kann, heißt ihn mißbrauchen. Das Urteil der Welt, welches vielleicht mißbilligt, daß ich den Doktor G. in mein wichtigstes Kollegium setze, ohne daß er zuvor Amtmann, Professor, Kammerrat oder Regierungsrat war, ändert gar nichts." Im Februar und März 1776 begann bereits G. sich bei einzelnen Sitzungen des Konseils einzufinden, 11. Juni vollzog der Herzog das Dekret seiner Ernennung zum Geheimen Legationsrat mit Sitz und Stimme im geheimen Konseil. Gleichzeitig hatte er Goethes innern Wünschen nach einer stillen Zufluchtsstätte durch den Ankauf des Bertuchschen Gartens mit Häuschen an der Ilm in der Nähe der (damals allein vorhandenen) Parkanlagen des "Sterns" genügt.

Der Dichter fühlte bereits in den ersten Monaten seiner weimarischen Herrlichkeit, welch ein Widerspruch zwischen seinem Trieb zur Sammlung, zur Stimmung, zur Produktion und zwischen der Zerstreuung des Hof- und Geschäftslebens obwalte. Und obschon er "voll eingeschifft war auf der Woge der Welt und landend oder scheiternd seinen Göttern zu vertrauen" gedachte, so schuf er sich doch von Haus aus die Möglichkeit stiller poetischer Stunden und hatte nur zu beklagen, daß dieselben durch die Last und die Überfülle der Geschäfte immer seltener wurden. Von den Vergnügungen des Hofs konnte sich G. schon nach dem ersten Jahr bis zu einem gewissen Grad zurückziehen, nicht von den amtlichen Pflichten, die er um so schwerer und ernster nahm, je mehr er fühlte, daß er das große Vertrauen des jugendlichen Fürsten zu rechtfertigen und demselben als wahrer Freund zur Seite zu stehen habe. In diesem Sinne nahm G. selbst mehr Arbeit und Verantwortung auf sich, als unmittelbar nötig gewesen wäre. Er war der That, wenn auch nicht dem Namen nach Karl Augusts erster Minister. Die Geschäfte der Wegebaukommission, des gesamten Bauwesens, der Bergwerks- und Forstverwaltung, der Kriegskommission kamen nach und nach in seine Hand; im Juni 1782 (zwei Monate früher hatte er das Adelsdiplom erhalten) ward ihm, nachdem sich v. Kalb als unfähig erwiesen, auch das Kammerpräsidium übertragen, wogegen er umsonst in der Ballade "Der Sänger" protestierte. Dabei hatte er den Herzog zu beraten, und indem er der Genosse seiner lustigen Tage, seines unruhigen Dranges nach außen, ja gelegentlich seiner Ausschreitungen war, leitete er ihn unvermerkt, jedoch fest und bewußt zur ernsten Pflichterfüllung, zum stillen Genuß an wissenschaftlichen und künstlerischen Darbietungen. In G. selbst freilich war damals noch zu viel brausender Lebensdrang, als daß diese Stimmung des Ernstes ausschließlich hätte vorwalten können; aber sie bildete gleichwohl die Grundlage seines Verhältnisses zum Herzog und seiner eifrigen Fürsorge für das Wohl des anvertrauten Landes. "Geschäft diese Tage her", schrieb er in sein Tagebuch, "mich darin gebadet und gute Hoffnung in Gewißheit des Ausharrens. Der Druck der Geschäfte ist sehr schön der Seele; wenn sie entladen ist, spielt sie freier und genießt des Lebens. Elender ist nichts als der behagliche Mensch ohne Arbeit, das schönste der Gaben wird ihm ekel." (Goethes Tagebuch vom 13. Jan. 1779.) Die Hingabe Goethes an die anvertrauten Geschäfte schloß unzweifelhaft ein großes Opfer an Zeit und Schaffensstimmung ein, aber sie wurde (was oft übersehen wird) in reichster Weise belohnt. Nicht nur genügte er in der umfassenden und gebietenden Wirksamkeit seinem starken Lebensdrang, den er im poetischen Schaffen allein nie hätte befriedigen können, nicht nur gewann er reiche Lebenseindrücke, sondern vor allem auch die Abgeschiedenheit, die er zur Klärung seiner poetischen Natur bedurfte, die Unabhängigkeit von allen Launen, Neigungen und Meinungen des Publikums, welches trotz des Beifalls, den es G. gespendet, doch mehr vom Stofflichen als vom Geistigen der Goetheschen Werke ergriffen worden war. G. ist beinahe der einzige unsrer Dichter, dem nach glänzenden Triumphen in der Jugend mehrere Jahrzehnte hindurch aller äußere Erfolg so gut wie versagt blieb. Die Gewöhnung, nur in einem begrenzten Kreis zu leben und in diesem seine Welt zu erblicken, trug ihn leicht darüber hinweg.

Noch freilich rang er zunächst mehr nach Erlebnis als nach Läuterung. Die Verstrickung einer Leiden-^[folgende Seite]